Ein junger Mann im Anzug liegt auf einer Wiese und blickt auf sein Handy
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Einfach Abschalten?

Das Kreuz mit der ständigen Erreichbarkeit

Seit Jahren ist die Entgrenzung der Arbeit ein heiß diskutiertes Dauerthema. Soll man nach dem Büro den Anruf des Chefs bzw. der Chefin entgegennehmen? Kann der Auftrag warten, oder setzt man sich am Sonntag noch vor den Laptop? Wer ständig erreichbar ist, kommt von der Betriebstemperatur nicht herunter, sagen Fachleute. Helfen könnten klare Regeln – doch daran mangelt es in der Arbeitswelt.

Anlässlich des Weltgesundheitstages (7. April) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat das Portal Karriere.at eine Onlineumfrage zur Erreichbarkeit im Job veröffentlicht. Rund 75 Prozent der befragten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gaben an, auch außerhalb der geregelten Arbeitszeiten erreichbar zu sein – 37 Prozent davon immer und jederzeit. Allerdings gibt es nur in den seltensten Fällen auch eine entsprechende Vereinbarung mit dem Unternehmen. „Entweder wurde nichts vereinbart, oder es ist nicht klar genug geregelt“, sagt Karriere.at-Geschäftsführer Georg Konjovic.

Die Umfrage steht zwar nicht repräsentativ für die Gesamtheit der Beschäftigten, unterstreicht jedoch den anhaltenden Trend Richtung Entgrenzung der Arbeit. Neu ins nun allerdings, dass derzeit wegen der Coronavirus-Krise mehr Menschen als üblich in ihren eigenen vier Wänden arbeiten. „Homeoffice ebnet den Weg zur Entgrenzung und zur ständigen Erreichbarkeit“, sagt der Arbeitspsychologe Christian Korunka von der Universität Wien im Gespräch mit ORF.at. „Früher war mit dem Verlassen des Büros die Arbeit zu Ende. Wenn die eigenen vier Wände das Büro sind, ist das ganz anders.“

Alles und immer in den eigenen vier Wänden

Die Coronavirus-Krise hat die Arbeitswelt vieler Beschäftigten von einem auf den anderen Tag stark verändert. Menschen verloren ihre Jobs, wurden in Kurzarbeit oder in die eigenen vier Wände geschickt. Homeoffice war zwar schon vor der Pandemie Thema, allerdings bei Arbeitgebern und auch Gewerkschaft aus unterschiedlichen Gründen nicht besonders populär. Die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus führten aber dazu, dass heute vieles von zu Hause aus erledigt wird – auch die Kinderbetreuung.

Grafik zur Umfrage mit ArbeitnehmerInnen
Grafik: ORF.at; Quelle: karriere.at

Universitätsprofessor Korunka beziffert, dass vor der Krise etwa 15 Prozent der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gelegentlich im Homeoffice arbeiteten. Jetzt seien es doppelt bis dreimal so viele. „Der Ort, wo wir arbeiten, beeinflusst natürlich auch, wie wir arbeiten“, sagt er und führt an, dass das Arbeitsgerät (etwa ein Laptop) auch in der Freizeit schneller zu Hand ist. Wichtig sei, dass man sich nach der Arbeit auch mal entspannt. „Denn allgemeinpsychologisch ist es für alle Menschen ratsam, mal Abstand zu halten“, so der Experte.

In zahlreichen Studien wurde die ständige Erreichbarkeit mit Blick auf die Gesundheit erforscht. Der Wegfall der Grenze zwischen Beruf und Privatleben erhöht das Risiko, psychisch zu erkranken, heißt es etwa. Hinzu kommt, dass während der Coronavirus-Krise auch Urlaubstage nur noch zu Hause konsumiert werden – also dort, wo sonst gearbeitet wird. So kommen Reisen, um eine klare Grenze zwischen Freizeit und Arbeit zu ziehen, derzeit wohl für die wenigsten Leute infrage.

„Kognitive Anforderung“

Für Konjovic von Karriere.at ist es daher umso wichtiger, dass in Unternehmen klar geregelt wird, wann wer wie erreichbar ist. Vielfach, so der Geschäftsführer, fühlten sich Beschäftigte unter Druck gesetzt, auf eine E-Mail des Vorgesetzten zu antworten, weil es keine Regeln gibt. „Vielleicht will der Chef ja gar nicht, dass man antwortet. Aber das muss eben auch kommuniziert werden“, so Konjovic. Schriftliche Vereinbarungen sind zwar besser als mündliche: „Aber zumindest ist schon mal über die Erreichbarkeit nach der Arbeit gesprochen worden. Alles ist besser, als überhaupt nicht darüber zu reden.“

Grafik zur Umfrage mit ArbeitnehmerInnen
Grafik: ORF.at; Quelle: karriere.at

Schon im vergangenen Jahr hatte das Institut für Soziologie an der Uni Wien eine Untersuchung zur Erreichbarkeit durchgeführt. Das Ergebnis: 40 Prozent der im Homeoffice Arbeitenden wurde etwa von ihren Arbeitgebern nicht klar kommuniziert, wann sie erreichbar sein sollen. Fast die gleiche Anzahl, nämlich 41 Prozent, gaben an, dass sie auch außerhalb der vereinbarten Arbeitszeit bzw. üblichen Bürozeiten tatsächlich regelmäßig kontaktiert wurden. Das führe dazu, dass eben klar festgelegte Arbeitszeiten ausgedehnt werden, so die Forschenden.

Es gebe unterschiedliche Reaktionen auf die Entgrenzung der Arbeit, sagt Experte Korunka. Auf der einen Seite würden jene Personen stehen, die Privates und Arbeit intergrieren, auf der anderen Seite jene, die die zwei Bereiche strikt voneinander trennen. „Der Großteil bewegt sich wohl in Mischformen“, sagt Korunka. Allen sei gleich, dass man speziell im Homeoffice einem „Selbstmanagement“ unterliegt, das auch eine zusätzliche „kognitive Anforderung“ sei. Der Organisationsaufwand, wann und wie man arbeitet, gehe in der Debatte über „flexibleres Arbeiten“ in vielen Fällen unter.

Ruhezeiten gönnen

Arbeitsrechtler Martin Gruber-Risak verweist im ORF.at-Gespräch auf das Arbeitszeitgesetz, in dem auch die Ruhezeit geregelt ist. Nach Beendigung der Tagesarbeitszeit ist dem Beschäftigten etwa „eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden zu gewähren“, heißt es dort. Aber wie üblich bestimmen Ausnahmen die Regel. So ist es laut Gesetz möglich, die Ruhepause auf mindestens acht Stunden zu reduzieren. „Allerdings muss die Verkürzung später ausgeglichen werden“, sagt der Arbeitsrechtsexperte.

Und was macht man, wenn der Arbeitgeber während dieser Ruhezeit anruft oder Nachrichten schreibt? „Während Ihrer Ruhezeit müssen Sie nicht abheben oder antworten. Aber wir wissen, dass das de facto ja kaum möglich ist“, so Gruber-Risak. Deshalb sei es notwendig, das „Recht auf Nichterreichbarkeit“ durch zum Beispiel technische Hilfsmittel etwas stärker zu bekräftigen. „Der Arbeitgeber könnte zum Beispiel E-Mails zeitverzögernd senden, damit der Arbeitnehmer diese erst am Montag lesen kann.“

Das „Recht auf Nichterreichbarkeit“ hatte zuletzt das EU-Parlament zu Jahresbeginn wieder debattiert. Dieses ist bisher im Unionsrecht nicht ausdrücklich geregelt. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sollten nach Ansicht des Parlaments nicht verlangen, dass ihre Angestellten außerhalb der Arbeitszeit direkt oder indirekt verfügbar sein sollten. „Menschen sind keine Roboter, Menschen haben Grenzen“, sagte EU-Beschäftigungskommissar Nicolas Schmit. Für den Schutz dieser Grenzen sind aber die Nationalstaaten verantwortlich.