Mann mit ungarischer Flagge
AP/Laszlo Balogh
Lockerungen trotz vieler Toter

Ungarn setzt auf riskante CoV-Strategie

Der ungarische Premier Viktor Orban sieht in der Impfstrategie seines Landes einen „Meilenstein“ erreicht: Mehr als ein Viertel der Bevölkerung ist zumindest erstgeimpft. Für Orban Anlass genug, große Lockerungsschritte umzusetzen. Die Kritik daran ist laut, liegt Ungarn bei der Zahl der CoV-Todesopfer doch weiterhin international an der Spitze.

Ungarn zeigt sich in der dritten Welle der Pandemie zerrissen: Das Impftempo ist enorm, so wie die Zahl der Todesopfer. In diesem Spannungsfeld ging das Land am Mittwoch mit großen Schritten aus dem Lockdown. Die seit November geltende Ausgangssperre wurde gelockert und beginnt nun zwei Stunden später um 22.00 Uhr. Der Handel darf wieder öffnen, wobei die Regel „eine Person auf zehn Quadratmeter“ gilt.

Um Andrang zu vermeiden, dürfen Geschäfte von 5.00 bis 21.30 Uhr geöffnet sein. Öffnen dürfen überdies Friseur- und Kosmetiksalons. Hotels und Gastronomie bleiben nach wie vor geschlossen, Lieferservice und Abholung sind möglich. Schulen und Kindergärten sollen nach der Impfung des Lehrpersonals am 19. April öffnen.

Rekordzahlen beim Impfen

Möglich machen die Lockerungen die Fortschritte beim Impfen. Laut Europäischem Zentrum für die Prävention von Krankheiten (ECDC) sind inzwischen 29 Prozent der Bevölkerung zumindest einmal geimpft. „Heute haben wir einen wichtigen Meilenstein erreicht“, sagte Orban in einem Facebook-Video am Dienstag. „Ungarn kann und wird das europäische Land sein, in dem alle am schnellsten geimpft werden.“

Anders als Österreich hat Ungarn keinen Mangel an Vakzinen. Es war der erste EU-Staat, der nicht von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zugelassene CoV-Impfstoffe aus Russland und China einsetzte. Seit Februar werden in dem Land neben den mRNA-Impfstoffen von Biontech und Pfizer sowie Moderna und dem Vektorimpfstoff von AstraZeneca auch das russische Vektorvakzin „Sputnik V“ sowie der Impfstoff des chinesischen Unternehmens Sinopharm verwendet. Orban selbst ließ sich medienwirksam das chinesische Vakzin verabreichen.

Hungarns Impfstoffe
AP/MTI/Attila Balazs
Ungarns Impfportfolio umfasst auch die Vakzine aus Russland und China

Ungarn hat bald womöglich sogar einen Überschuss an Impfstoff, denn zur Impfung angemeldet haben sich nur 3,7 der knapp zehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Derzeit wird daher geprüft, auch jüngere Personen zu immunisieren, zudem hilft Ungarn dem Impfnachzügler Tschechien mit 40.000 Dosen aus.

22.000 CoV-Tote

Parallel zum hohen Impftempo hat das Land aber auch die höchste Todesrate pro Kopf durch das Virus. Das zeigen unter anderem Daten der Johns Hopkins University und der Website OurWorldInData. Am Mittwoch wurden 170 CoV-Tote innerhalb eines Tage gezählt, insgesamt starben mehr als 22.000 Menschen.

Steine die an Todesopfer erinnern sollen
APA/AFP/Attila Kisbenedek
Steine zum Gedenken: Jeder trug das Alter der Verstorbenen

Der Trend hält schon seit Wochen an. Vorige Woche legte eine Gedenkinitiative, hinter der die Oppositionspartei Neue Welt steht, 20.000 Steine auf der Budapester Margareteninsel aus, um die Dimension zu verdeutlichen. Die Steine, durch ein dünnes Band in den ungarischen Nationalfarben verbunden, zeigten das Alter des Verstorbenen. „Mehr als 20.000 unserer Landsleute sind der Epidemie zum Opfer gefallen, und das ist eine persönliche, familiäre, aber auch nationale Tragödie“, heiß es.

Appelle, noch zu warten

Orbans Kritikerinnen und Kritiker sind empört und werfen ihm angesichts der Totenzahlen Augenauswischerei vor. Die neuen Lockerungen werden auch von Fachleuten skeptisch beäugt. Der Virologe Miklos Rusvai bezeichnete im ungarischen TV-Sender ATV die Lockerungen als „riskant“, die Regierung hätte damit noch warten sollen. Die Folgen der Schulöffnungen am 19. April würden sich erst Anfang Mai in den Zahlen niederschlagen, erklärte der Virologe.

Gesundheitsminister Miklos Kasler ging hingegen auf Facebook lediglich auf das gute Impfergebnis ein. Das Thema wird auch medial von der Regierung stark angetrieben, andere Stimmen hingegen verdeckt. Die journalistische Berichterstattung über die Impfkampagne wurde eingeschränkt, nur noch die staatliche, regierungsnahe Medienholding MTVA darf in Krankenhäusern und Arztpraxen, in denen geimpft wird, filmen und fotografieren. Wegen seiner restriktiven Medienpolitik mit wirtschaftlichem und behördlichem Druck steht Orban schon lange in der Kritik. Erst am Mittwoch kritisierte Amnesty International die Instrumentalisierung der Pandemie zur Untergrabung der Menschenrechte in Ungarn.