Schriftsteller Charles Baudelaire
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Charles Baudelaire 200

Verklärter Poet am Puls der Moderne

Am Freitag vor 200 Jahren wurde Charles Baudelaire in eine Umbruchszeit geboren: Im Paris Napoleons III. erlebte er den grundlegenden Wandel zur modernen Großstadt mit. Sein von Ambivalenzen geprägtes Schaffen und Leben hat stets zu Projektionen eingeladen. Was bleibt vom oft verklärten Dichter? Seine Verbindung zu jenen, die ihre Ideen in Auseinandersetzung mit ihm entwickelten.

Das Jahr 1857 war, folgt man dem Literaturwissenschaftler Wolfgang Matz, „das Jahr der Moderne, das Jahr der modernen Literatur“. Im heutigen Budapest erschien Adalbert Stifters dreibändiger Bildungsroman „Der Nachsommer“. In Paris veröffentlichte Gustave Flaubert mit der vollständigen Ausgabe von „Madame Bovary“ eine fulminante Vermessung der Provinz aus Sicht einer unglücklichen Protagonistin. Im Jahr zuvor hatte ihn die zensierte Version des Buchs vor Gericht gebracht, mit dem Vorwurf der „Verherrlichung des Ehebruchs“.

Zur selben Zeit hatten auch Baudelaire, damals 36-jährig, und sein Verleger Auguste Poulet-Malassis mit den Gerichten zu kämpfen: Nach dem erstmaligen Erscheinen des heute weltberühmten Gedichtbandes „Die Blumen des Bösen“ mussten sie sich wegen „Beleidigung der öffentlichen Moral“ verantworten.

Die Entdeckung der Großstadt

Baudelaire war bis zu diesem Prozess hauptsächlich in den Zirkeln der Pariser Literaten- und Bohemeszene bekannt, am meisten ist er wohl als französischer Übersetzer Edgar Allen Poes aufgefallen. Was sah das Gericht in Baudelaires Versen? Einen skrupellosen Realisten, der sich nicht scheute, die Abgründe der Welt um ihn herum zu benennen. Verzweiflung, Weltschmerz, Prostitution, Syphilis, Rauschmittel, das alles findet Platz in den „Blumen des Bösen“.

Die Erfahrung des lyrischen Ichs in Baudelaires Dichtung ist aber auch eine Erfahrung der modernen Großstadt, zu der Paris in seiner Lebenszeit wurde. Von 1853 bis 1870 gestaltete der Stadtplaner Georges-Eugene Haussmann Paris tiefgreifend um. Mit dem Bau breiter Boulevards, die Paris als Verkehrsadern und Sichtachsen bis heute bestimmen, änderte er das Gefüge der Stadt dramatisch. Nach der Erfahrung der Aufstände 1848, an denen auch Baudelaire teilnahm, war die bauliche Umgestaltung von Paris auch mit dem Hintergedanken vollzogen worden, dass Truppen aufständische Bürger so leichter bekämpfen könnten als im dichten Gassengewirr des alten Stadtplans.

Frontispiz der Sammlung Les Épaves von Charles Baudelaire
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Das Frontispiz einer Ausgabe von Baudelaires inkriminierten Gedichten. Allegorisch werden die sieben Todsünden dargestellt.

Buchhinweise

  • Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Neu übersetzt von Simon Werle. Rowohlt, 528 Seiten, 39,10 Euro.
  • Charles Baudelaire: Der Spleen von Paris. Neu übersetzt von Simon Werle. Rowohlt, 512 Seiten, 41,20 Euro.
  • Wolfgang Matz: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter: Die Entdeckung der modernen Literatur. Wallstein, 462 Seiten, 30,80 Euro.
  • Alex Ross: Die Welt nach Wagner: Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne. Rowohlt, 912 Seiten, 41,20 Euro.

Werle sieht Baudelaires literarische Bedeutung im Gespräch mit ORF.at stark an die Umbrüche seiner Zeit gekoppelt: „Baudelaire hat an einem Knotenpunkt gelebt, historisch, aber auch geografisch, an dem die moderne Welt zum Ausdruck gekommen ist: Paris unter Napoleon III. Er erlebte die Geburt der Presse, mit allen ihren Vor- und Nachteilen, die Geburt der Fotografie und die Geburt der Großstadt. Das war alles miterlebt und mit reflektiert und er hat sich darauf intensiv bezogen, und zwar immer widersprüchlich. Er hat diese Dinge und Prozesse sehr stark abgelehnt, aber zugleich sich ihrer auch sehr stark bedient.“

Ein Widersprüchlicher als Projektionsfläche

Baudelaire, dessen Bekanntheit auch nach dem Prozess bis zu seinem Tod 1867 nicht stark zunahm, bekam seine eigentliche literaturgeschichtliche Bedeutung erst im Nachhinein zugewiesen. Und das zum guten Teil auch, weil er durch seine Ambivalenzen für die Nachwelt leicht für die jeweils eigenen Ideen gut einzusetzen war.

Der Dichter, der genauso mit dem Frühsozialismus liebäugelte, wie er kurzzeitig das ästhetische Programm des „l’art pour l’art“ vertrat, wie er krude antisemitische Parolen äußerte und zum glühenden „Wagneristen“, zum Anhänger Richard Wagners wurde, bot seinen Übersetzern und dichterischen Nachfolgern immer die Möglichkeit zur Eingemeindung in die eigene Vorstellungswelt.

Totenmaske von Charles Baudelaire
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Die Totenmaske Baudelaires (1821–1867): Der tote Dichter war eine wichtige geistesgeschichtliche Projektionsfläche

„Baudelaire ist ein Autor, der wegen seiner Widersprüchlichkeit und seiner Vielgestaltigkeit immer eingeladen hat zu Projektionen“, so Werle. „Die Übersetzer und Rezipienten, auch die ganz berühmten und großen, haben sich den Baudelaire herausgesucht oder auch konstruiert, den sie brauchten, der ihnen von Nutzen und zuhanden war. Jener Baudelaire, der ihre eigenen Gedankengebäude und ihre eigenen dichterischen Ambitionen zu verkörpern schien oder ihnen Impulse gegeben hat.“

Bezugspunkt Walter Benjamins

An großen Übersetzern und Apologeten war Baudelaires Nachruhm tatsächlich reich. In Frankreich erklärten ihn die Symbolisten wie Arthur Rimbaud, Stephane Mallarme und Paul Verlaine zum Vorbild. Auf Deutsch übersetzte ihn als erster Stefan George, die spätere Zentralfigur des antimodernistischen Zirkels „Geheimes Deutschland“.

Literaturkritiker und Philosoph Walter Benjamin
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Walter Benjamin (1892–1940) bezog seine bekannte Figur des Flaneurs in seinem „Passagenwerk“ aus der Lektüre Baudelaires

Auch Walter Benjamin arbeitete sich intensiv an „seinem“ Baudelaire ab. Er übersetzte Teile der „Blumen des Bösen“, machte den Franzosen zum Beispiel in seinen übersetzungstheoretischen Schriften und ließ sich von ihm maßgeblich zu seinem Hauptwerk, dem „Passagenwerk“, inspirieren. Die darin zentrale Figur des Flaneurs geht auf Baudelaires Interpretation von Poes „Der Mann in der Menge“, eine der ersten literarischen Umsetzungen der Erfahrung der Großstadt, zurück.

Benjamins Lesarten des Dichters sind in der historischen Distanz eindeutig ideologisch besetzt. In „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“ deutet er diesen als metaphysischen Provokateur und als konspirativen Spitzel, der, mit Karl Marx gedacht, eine typische Figur der Boheme sei.

Patina und kulturelles Gedächtnis

Nach der Aktualität Baudelaires befragt, antwortet Werle, der neben den „Blumen des Bösen“ auch Baudelaires „Der Spleen von Paris“ übersetzt hat: „Baudelaires ästhetische Konflikte sind zum großen Teil historische geworden. Auch die Dichtung als solche hat in vielen Aspekten Patina angesetzt.“ Gewissermaßen gibt der frei von Ideologie betrachtete Dichter den Blick dafür frei, wie sehr er Kind seiner Zeit war.

Wenn er aber von seinen persönlichen Empfindungen dichte, sei Baudelaire auch heute noch frisch und unverbraucht. Nämlich dort, wo Baudelaire „nicht als Rhetoriker, sondern aus seiner inneren existenziellen Zerrissenheit“ heraus spreche.

Ist Baudelaires Stellung im kulturellen Gedächtnis gefährdet, da man ihn nicht mehr als Satanisten, als Antimodernisten, als Beispiel dekadenter Geisteshaltung oder als Ausdruck der in marxistischer Analyse beobachteten Zusammenhänge interpretieren kann? Bestimmt nicht, ist sich Werle sicher: „Baudelaire wird weiter rezipiert werden, weil viele Diskurse an ihn angelagert sind, die weiterwirken.“

Baudelaire wird also weiter gelesen werden, schon allein, weil er mit so vielen geistesgeschichtlichen Zusammenhängen verbunden bleibt, die relevant bleiben. Erst kürzlich hat etwa Alex Ross in seiner Wirkungsgeschichte Wagners „Die Welt nach Wagner“ gezeigt, wie Wagner für Baudelaire und seine Zeitgenossen „den internationalen Aufstand gegen den künstlerischen Status quo“ repräsentierte. Ähnlich wird auch Baudelaire immer weiter mit Bedeutungen aufgeladen werden und auf die eine oder andere Weise ein Begriff bleiben.