Feuerwerkskörper bei Ausschreitungen in Belfast
AP/Peter Morrison
Unruhen in Nordirland

Ein Spuk von alten und neuen Gespenstern

Die neuen nächtlichen Ausschreitungen in Nordirland erinnern an die blutigen Auseinandersetzungen vergangener Zeiten. Die Sorge vor einem Wiederaufflammen des Konflikts zwischen protestantischen und katholischen Gruppen ist groß. Zu den alten Spannungen gießen nun auch noch die Nachwehen des Brexits Öl ins Feuer.

Es sind „Szenen, wie wir sie in Nordirland seit Langem nicht mehr gesehen haben. Szenen, von denen viele dachten, sie seien Geschichte“, sagte Irlands Außenminister Simon Coveney über die nächtlichen Unruhen in Belfast.

Seit Ostern kommt es immer wieder zu schweren Auseinandersetzungen. In der Nacht zum Donnerstag war ein Bus mit einer Brandbombe angegriffen worden, der in der Folge in Flammen aufging. Der Busfahrer wurde verletzt, ebenso wie bereits Dutzende Polizeibeamte. Auch in der Nacht auf Freitag hatten sich wieder Hunderte versammelt und die Polizei mit Steinen, Feuerwerkskörpern und Molotowcocktails beworfen. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein, laut BBC bei Krawallen zum ersten Mal seit Jahren.

Militante Gruppen mit Verbindung ins Drogenmilieu

Nach Ansicht der Sicherheitsbehörden stecken dahinter teils militante protestantisch-loyalistische Gruppierungen, die auch im Drogenhandel tätig sein sollen. Ein Hauptgrund für die neuen Unruhen liegen in den Vereinbarungen zwischen Großbritannien und der EU nach dem Brexit.

Der festgelegte Sonderstatus Nordirlands stößt in Teilen des protestantischen Lagers auf Widerstand. Die Provinz ist weiter Teil des EU-Handelsraums, um Warenkontrollen an der Grenze zum EU-Mitglied Irland zu verhindern. Stattdessen muss nun zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs kontrolliert werden, eine Warengrenze entstand.

Auch weil in Nordirland teils Supermarktregale leer blieben, hatte London zuletzt einige Regelungen vorübergehend einseitig aufgehoben – dagegen geht die EU juristisch vor. Viele Anhänger der probritischen Unionisten sind nun deshalb zunehmend frustriert, die Vereinbarungen werden auch von der größten protestantisch-unionistischen Partei DUP abgelehnt.

London sieht Schuld bei EU

Von der Regierung in London wird die Schuld der EU zugeschoben: „Es ist die EU, die versucht, eine Barriere entlang der Irischen See zwischen Nordirland und Großbritannien zu errichten“, sagte kürzlich etwa der britische Außenminister Dominic Raab. In den Unruhegebieten der vergangenen Tage schüttet sich der Ärger über die Warengrenze aber über der Regierung aus. Graffiti und Poster zeugen davon, dass die Menschen dort Premier Boris Johnson beschuldigen, Nordirland betrogen zu haben, so der britische „Guardian“.

Zerstörung nach Ausschreitungen in Belfast
AP/Peter Morrison
Gewalt in Belfast: Ein Bus ging in Flammen auf, der Lenker wurde verletzt

Getrennt durch „Friedensmauern“

Schon von Anbeginn der Brexit-Verhandlungen stiegen die Sorgen vor einem Aufflammen alter Feindschaften durch das Hochziehen von Grenzen. Noch immer ist die Gesellschaft in Nordirland tief gespalten. Vereinzelt kommt es noch immer zu Gewalttaten. Wohnbezirke, Kindergärten und Schulen sind meist nach konfessionellen Lagern getrennt. Durch Nordirlands Hauptstadt Belfast verlaufen kilometerlange, meterhohe Zäune. Die „Friedensmauern“ sollen gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den verfeindeten Gruppen verhindern.

Nordirland-Konflikt

Jahrzehntelang standen einander protestantische Befürworter der Union mit Großbritannien und katholische Anhänger einer Vereinigung der beiden Teile Irlands gegenüber. 1998 wurde der Bürgerkrieg durch das Karfreitagsabkommen beendet.

Der Brexit fand im Jänner statt, seither schwelt der Ärger darüber. Nun, Monate später, reichte ein kleiner Funke als Anlass für die Ausschreitungen. Als dieser Funke bot sich eine polizeiliche Entscheidung an. Politiker der katholischen Sinn-Fein-Partei wurden nach Teilnahme an einer großen Beerdigung von Bobby Storey, ehemaliger IRA-Terrorist und Stratege hinter den Friedensverhandlungen, nicht wegen Verstößen gegen Coronavirus-Regeln belangt.

Die Straflosigkeit empörte viele probritische Anhängerinnen und Anhänger, die freilich in der Pandemie mitunter darauf verzichten mussten, selbst Begräbnisse von Verwandten zu besuchen. Auch die DUP kritisierte die Polizei, nicht gegen Sinn Fein vorzugehen. Sinn Fein wirft wiederum der DUP von Regierungschefin Arlene Foster vor, die Spannungen anzufachen.

Einig gegen Ausschreitungen

Angesicht der jüngsten Gewaltausbrüche legte man allerdings die parteipolitischen Anfeindungen beiseite. Am Donnerstag verurteilten Politikerinnen und Politiker beider konfessioneller Lager die Ausschreitungen in einer gemeinsamen Erklärung scharf. „Zerstörung, Gewalt und die Androhung von Gewalt sind vollkommen inakzeptabel und nicht zu rechtfertigen.“ Die politischen Positionen seien „sehr unterschiedlich“, hieß es. Aber „wir sind alle vereint in der Unterstützung für Recht und Ordnung“. Diese Unterstützung gelte auch für die Polizisten, die sich dem „Unglück“ entgegenstellten, um „andere zu schützen“.

Foster schrieb auf Twitter zudem: „Das ist kein Protest. Das ist Vandalismus und versuchter Mord. Diese Handlungen repräsentieren keinen Unionismus oder Loyalismus.“

Der Nordirland-Konflikt sei nie beseitigt worden, urteilte am Mittwoch die britische „Times“. Vielmehr sei ein scheinbar unlösbarer Streit in eine Form gebracht worden, mit der beide Gemeinschaften leben können. „Doch die Gewalt in der Provinz in der vergangenen Woche erinnert daran, wie ungewiss der Zustand des Friedens ist. Selbst im hundertsten Jahr des Anglo-Irischen Vertrages, der die Teilung festlegte, schüren Erinnerungen an vergangene Ungerechtigkeiten“ den Groll, egal ob diese Ungerechtigkeiten tatsächliche seien oder vermeintliche.