Soldaten der US-Army mit Gepäck auf einem Flugfeld in Afghanistan
Reuters/Us Air Force
US- und NATO-Abzug

Furcht vor Machtvakuum in Afghanistan

Die Furcht ist groß, dass nach dem Abzug der US- und aller weiteren NATO-Truppen aus Afghanistan de facto ein Machtvakuum entsteht. Und dieses könnte vor allem von den Taliban und auch anderen islamistischen Terrorgruppen ausgefüllt werden. Verlierer dabei ist so gut wie sicher die afghanische Regierung. Der „endlose Krieg“ in Afghanistan ist mit dem Abzug dann zwar für die USA beendet, aber nicht für die afghanische Bevölkerung.

Die Taliban kontrollieren weite Teile des ländlichen Raums und strategisch wichtige Straßen. In den Städten sorgen sie mit fast täglichen Bombenanschlägen und gezielten Tötungen für Angst und Schrecken. „Der Krieg wird sich verschärfen, hässlicher werden – und sich hinziehen, bis die Taliban die Macht ergreifen“, so der Afghanistan-Experte Nishank Motwani. Ein Kollaps der bisherigen, durch die Präsenz der ausländischen Truppen aufrechterhaltenen Regierungsstrukturen wird befürchtet. Das Land könnte dann vollends ins Chaos und einen brutalen Bürgerkrieg abgleiten, an dessen Ende dann doch die erneute Machtübernahme der Taliban steht, befürchtet auch eine Analyse der Nachrichtenagentur AP.

Bereits seit die Regierung von US-Präsident Donald Trump im Februar 2020 ein Abzugsabkommen der USA mit den Taliban ausgehandelt hatte, stiegen die Gewalt und die Anzahl der Anschläge auf die Zivilbevölkerung drastisch. Mehr als 1.700 Zivilistinnen und Zivilisten starben bei Anschlägen in den ersten drei Monaten dieses Jahres, ein Anstieg um fast ein Viertel gegenüber dem gleichen Zeitraum 2020, wie die UNO-Afghanistan-Mission mitteilte.

Ein Soldat geht in Kabul an einem durch eine Bombe zerstörten Auto vorbei
Reuters/Mohammad Ismail
Immer wieder kommt es zu Anschlägen vonseiten der Taliban, etwa in der Hauptstadt Kabul

USA fühlen sich vor Anschlägen sicher

Für Washington zählen derartige Bedenken gegenüber der Sicherheit der afghanischen Zivilbevölkerung kaum. Die Regierung von US-Präsident Joe Biden geht davon aus, dass die Sicherheitsinteressen der USA auch nach einem Abzug gewahrt bleiben. Auch aus der Ferne soll sichergestellt werden, dass Afghanistan nicht zur Basis für Terroranschläge auf die Vereinigten Staaten wird, wie die AP schreibt. Die Regierung in Kabul kommt da mit ihren – aus der Sicht der USA regionalen – Sicherheitsproblemen ins Hintertreffen.

Feuerwehrleute durchsuchen Schutt nach dem Anschlag auf das New Yorker World Trade Center
Reuters/Peter Morgan
Der Anschlag auf das World Trade Center 2001

Nach Angaben von Biden sollen die US-Soldaten Afghanistan spätestens bis zum 11. September verlassen haben – das ist der 20. Jahrestag der Terroranschläge auf das World Trade Center in New York und das US-Verteidigungsministerium nahe Washington, die der Auslöser der US-Invasion in Afghanistan waren. Die US-Armee stürzte damals die Regierung der radikalislamischen Taliban, die dem Terrornetzwerk al-Kaida Unterschlupf geboten hatte.

Biden sagte am Mittwoch in einer im Fernsehen übertragenen Ansprache, die US-Streitkräfte seien nach den Anschlägen vom 11. September in Afghanistan einmarschiert, damit es nicht erneut Ausgangspunkt von Attacken gegen die USA werde. „Wir haben dieses Ziel erfüllt“, sagte der US-Präsident. Es sei jetzt Zeit, „diesen endlosen Krieg zu beenden“.

USA könnten in den Konflikt wieder reingezogen werden

Auch die „New York Times“ sieht die Sicherheit der USA nach dem Abzug gewährleistet – zumindest in der nahen Zukunft. Langfristig sei die Frage, ob in Afghanistan wieder Anschläge auf die USA geplant werden könnten, viel schwieriger zu beantworten, so die Zeitung. Die USA könnten in Afghanistan wieder hineingezogen werden, ähnlich wie im Irak, warnten laut der Zeitung bereits Insider und namentlich nicht genannte aktive und bereits pensionierte Beamte. Auch hätten US-Geheimdienste Biden bereits vor der düsteren Zukunft Afghanistans und dem sich abzeichnenden Sieg der Taliban gewarnt, heißt es weiter.

Al-Kaida und auch der afghanische Ableger der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) seien innerhalb des Landes sehr schwach, wie mehrere Geheimdienstmitarbeiter der Zeitung sagten. Die IS-Kämpfer seien darauf fixiert, auf lokaler Ebene Gebiete für sich zu erobern und abzusichern, und nicht, internationale Terrorattacken etwa gegen die USA auszuführen, heißt es weiter. Zusätzlich sind auch die Taliban mit ihnen großteils verfeindet.

Drohnen, Langstreckenbomber und Spionagenetzwerke

Die USA wollen ihre Sicherheit auch aus der Entfernung gewahrt wissen und wollen sicherstellen, dass Afghanistan kein Stützpunkt für international aktive Terrororganisationen wird. Dazu sollen etwa Drohnen, Langstreckenbomber und Spionagenetzwerke zum Einsatz kommen, wie die „NYT“ schreibt. Doch die geheimdienstlichen Informationen aus Afghanistan könnten gefährdet sein. Afghanische Armee-Einheiten, die bis jetzt den größten Teil der Informationen über Bedrohungen geliefert haben, könnten nach dem US-Rückzug aufgelöst werden und eine große Lücke hinterlassen.

US-Soldaten in Afghanistan mit fliegendem Chinook-Helikopter im Hintergrund
APA/AFP/David Furst
US-Soldaten in Afghanistan

Das US-Verteidigungsministerium berät sich bereits mit Nachbarstaaten Afghanistans wie etwa Tadschikistan, Kasachstan und Usbekistan darüber, US-Streitkräfte „neu zu positionieren“, so hohe US-Beamte zur „NYT“. Flugzeugträger mit Kampfjets und Langstreckenbomber, die von Basen im Persischen Golf und im Indischen Ozeans starten können, könnten gegen aufständische Kämpfer bzw. deren Basen eingesetzt werden. Für die vorherige Aufklärung der Lage und Suche nach Stützpunkten sollen bewaffnete Überwachungsdrohnen eingesetzt werden, heißt es weiter.

Positionen von Kabul und Taliban unvereinbar

Friedensverhandlungen zwischen der Regierung in Kabul und den Islamisten haben bisher kaum Fortschritte gebracht. Die USA favorisieren eine Übergangsregierung unter Einbeziehung der Taliban und langfristig einen Konsens zwischen allen Konfliktparteien. Ob das überhaupt möglich ist, steht in den Sternen. Die Taliban bestehen auf einer Rückkehr zu einem Emirat unter Führung eines religiösen Ältestenrats. De facto sind die Positionen unvereinbar, eine Eskalation in Sachen Gewalt wird erwartet.

US-Präsident Joe Biden
Reuters/Tom Brenner
US-Präsident Joe Biden verkündete den Abzug aus Afghanistan

Staatschef Ashraf Ghani übt sich derweil in Zweckoptimismus und sieht seine Truppen den Aufgaben gewachsen. Sie seien „vollständig in der Lage, ihre Menschen und ihr Land zu verteidigen“, sagte er. Nach Angaben der afghanischen Behörden übernehmen die 300.000 Soldaten und Polizisten des Landes bereits 98 Prozent aller Einsätze gegen die Aufständischen. Bei Kampfeinsätzen ist die US-Luftwaffe bisher jedoch ein zentraler Faktor. Sie bietet wichtige Unterstützung aus der Luft, vor allem, wenn die afghanischen Truppen in die Defensive geraten. Die fehlende Unterstützung des US-Militärs könnte allerdings die Moral der Truppe auf die Probe stellen, wie manche Experten befürchten.

Katastrophe für Frauen

Der Truppenabzug wird bereits jetzt als Katastrophe für Frauen und Frauenrechte in Afghanistan bewertet. Es gibt die große Befürchtung, dass die Errungenschaften der vergangenen beiden Jahrzehnte wieder verloren werden könnten. Die Taliban verbannten bis zu ihrem Sturz 2001 Mädchen aus Schulen und steinigten Frauen wegen Ehebruchs zu Tode. Heute gibt es in Afghanistan Politikerinnen, Aktivistinnen, Richterinnen und Journalistinnen. Bei einer weiteren Stärkung der Taliban durch den Truppenabzug wird erwartet, dass diese Entwicklung wieder zunichtegemacht wird und die Zeit im Sinne der Taliban wieder zurückgedreht wird.

Die Taliban erklärten, sie respektierten Frauenrechte, solange diese im Einklang mit islamischem Recht stünden. „Wenn sie sagen, dass sie die Frauenrechte schützen werden, werden sie das entsprechend ihrer Auslegung der Scharia tun“, so die afghanische Wissenschafterin Mariam Safi.

Auf ausländische Hilfe angewiesen

Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt, hoch verschuldet und angewiesen auf ausländische Hilfe. Zwar verfügt das Land über Bodenschätze, aber die Sicherheitslage war nie stabil genug, um auf diese Weise die Staatskassen zu füllen. Im November sagten Geberländer Afghanistan Unterstützung bis 2024 zu. Wegen des Abzugs der ausländischen Truppen ist die Einhaltung dieser Hilfszusagen aber fraglich.

Trotz des geplanten Rückzugs der internationalen Truppen will die UNO ihre politische und humanitäre Mission in dem Land fortführen. „Wir werden die Situation weiter untersuchen, aber unsere Arbeit in Afghanistan wird weitergehen“, sagte UNO-Sprecher Stephane Dujarric. Es sei „klar und offensichtlich“, dass der Abzug der NATO- und US-Truppen „eine Auswirkung auf das Land als Ganzes haben wird“. Die UNO sei „seit langer, langer Zeit im Bereich der humanitären Entwicklung in Afghanistan präsent“, sagte er.