Szene aus dem Film „Ma Rainey’s Black Bottom“.
Netflix/David Lee
Oscars

Wie gemacht für Couch-Potatoes

Hiesige Filmfans kennen das Dilemma: Vor der Oscar-Nacht alle großen Filme gesehen zu haben ist ein Kunststück, das nur jenen gelingt, die internationale Festivals frequentieren. Das ist heuer etwas anders – viele Filme waren gar nicht oder nur kurz auf der Leinwand zu sehen, dafür ist erstmals so manches bereits online verfügbar. Ein Überblick über das bisher wohl diverseste Oscar-Startfeld.

2020 hat sich in der Filmbranche vieles geändert. Das gilt vor allem für die Verwertungsmethoden, nie war Streaming so wichtig wie heute. Doch auch inhaltlich ist der Wandel nicht aufzuhalten: Noch nie gab es eine Oscar-Nacht wie diese, die in der Nacht von Sonntag auf Montag stattfinden wird. Noch nie waren die Nominierten so divers, noch nie gab es so viele Schwarze, so viele Asiaten und so viele Frauen unter den Nominierten.

Diese mehrfache Premiere ist ein Resultat mehrerer Faktoren: Zum einen erlaubte die Academy heuer auch Einreichungen, die nicht zuvor im Kino gelaufen waren, zum anderen ist es ein aktives Bemühen, den gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Zeit gerecht zu werden, schließlich waren die USA im vergangenen Jahr nicht nur von CoV, sondern auch von der „Black Lives Matter“-Bewegung, dem Kampf um Bürgerrechte und dem Präsidentschaftswahlkampf geprägt.

Carey Mulligan in „Promising Young Women“.
Focus Features
Sieht nicht schlecht aus: Emerald Fennells Debütfilm „Promising Young Woman“ hat Chancen auf fünf Oscars

Auch die Zusammensetzung der Academy hat sich in den letzten Jahren geändert, nicht mehr aktiv filmschaffende Mitglieder wurden vom Wahlprozess ausgeschlossen und stattdessen jüngere, aktive Mitglieder mit vielfältigerer Herkunft eingeladen. Dass dieser Wandel in der Filmbranche nicht aus purer Menschenfreundlichkeit geschieht, sondern weil die rein weißen Casts und Crews sich nicht mehr gut verkaufen und auch beim Publikum Geschichten abseits der weißen Norm gut ankommen, ist der wirtschaftliche Teil dieses Wandels.

So divers wie nie

Auf der Bühne der Oscar-Nacht findet ein Ringen um Deutungshoheit statt, dessen Auswirkungen nie so deutlich waren wie heuer. Zum ersten Mal in der Geschichte der Oscars sind zwei Regisseurinnen nominiert: die in Peking geborene Chloe Zhao für ihr Roadmovie „Nomadland“ und die britische Regiedebütantin Emerald Fennell für ihren Vergewaltigungs-Rache-Horror „Promising Young Woman“.

Programmhinweis

Der ORF berichtet live von der Verleihung der 93. Oscar-Verleihung. Die Oscar-Nacht im ORF startet um 0.30 Uhr in ORF1. Ab 2.00 Uhr wird die Zeremonie live übertragen. ORF.at begleitet die Gala mit einem Liveticker. Montagabend bringt „kulturMontag“ einen Nachbericht zur Preisverleihung – alle Infos zur Oscar-Berichterstattung des ORF in tv.ORF.at.

Zum ersten Mal sind nur zwei Männer in der Kategorie „Bester Hauptdarsteller“ weiß. Die Altvorderen Anthony Hopkins und Gary Oldman konkurrieren gegen Riz Ahmed („Sound of Metal“), Steven Yeun („Minari“) und den im August 2020 verstorbenen Chadwick Boseman („Ma Rainey’s Black Bottom“). Auch bei den Schauspielerinnen sind mit Viola Davis (ebenfalls für „Ma Rainey’s Black Bottom“) und Andra Day (für „The United States vs. Billie Holiday“) zwei von fünf Nominierten schwarz.

Selbstverliebt wie eh und je

Wandel hin oder her, vor allem bleibt Hollywood selbstverliebt: Die meisten Nominierungen hat „Mank“ bekommen, in dem die Branche sich selbst feiert. Zehn Oscar-Chancen gibt es für den Film von David Fincher, in dem Gary Oldman als Drehbuchautor Herman J. Mankiewicz mit Orson Welles um das Skript für „Citizen Kane“ ringt. „Mank“ (auf Netflix) ist einer jener drei besten Filme, die im Streaming zu sehen sind, die anderen sind das aufwühlende Drama „Sound of Metal“ (auf Amazon Prime) mit Ahmed als gehörlosem Schlagzeuger, und Aaron Sorkins „The Trial of the Chicago 7“ (auf Netflix).

Szene aus dem Film „Sound of Metal“.
Courtesy of Amazon Studios
Riz Ahmed hat als gehörloser Musiker in „Sound of Metal“ Chancen auf den Oscar als bester Hauptdarsteller

„Sound of Metal“ ist eine kleine, hochdramatische Geschichte um einen Musiker, der sein wichtigstes Werkzeug sein Gehör, verliert und sich komplett neu organisieren muss, um weiterleben zu können. Regie führte erstmals der „Place Beyond the Pines“-Drehbuchautor Darius Marder, der auch für sein Skript nominiert ist. „Trial of the Chicago 7“ wiederum ist ein konventionelles Polit-Justiz-Stück über acht Männer, die nach den Protesten gegen den Vietnamkrieg im Sommer 1969 als Anführer angeklagt werden.

Eine Ära, zwei Filme

Es ist Sorkins zweiter Film, der vor allem durch geschliffene Dialoge punktet und seinem Publikum ein wohliges Gefühl des Auf-der-richtigen-Seite-Stehens vermittelt, nach einer bewährten Dramaturgie und ordentlichen, nicht mehr hinterfragten Feindbildern. Spannend ist vor allem die historische Überschneidung mit einem zweiten Anwärter auf den Oscar als bester Film, Shaka Kings „Judas and the Black Messiah“: In beiden Filmen ist der Tod des Black-Panthers-Anführers Fred Hampton bei einer FBI-Razzia ein Wendepunkt.

Im direkten Vergleich ist „Judas“ der sperrigere Film, King verteilt sein Gewicht gleichmäßiger auf seine Protagonisten (sowohl Daniel Kaluuya als auch Keith Stanfield sind als Nebendarsteller nominiert). Vor allem im Nebeneinander sind diese beiden Filme spannend, weil an ihrem Beispiel deutlich wird, wie wichtig eine Alternative zur ewig gleichen weißen liberalen Mittel-bis-Oberschicht-Perspektive ist, die in Hollywood immer noch dominiert.

Für die Oscar-Nacht hätte es sich gelohnt, beide Filme zu kennen, unglücklicherweise wurde der angekündigte Streamingstart von „Judas“ von Sky auf unbestimmte Zeit verschoben. Auf die besten Filme ist noch länger zu warten, hier setzen die Verleiher auf Kinostarts: „The Father“ ist Florian Zellers Theaterstückverfilmung eines Kammerspiels um einen dementen Mann, der zärtliche koreanisch-amerikanische Familienfilm „Minari – Wo wir Wurzeln schlagen“ handelt von einer Familie, die sich im ländlichen Arkansas niederlässt.

Filme feiern heuer online

Wann diese Filme ins Kino kommen, ebenso wie Zhaos „Nomadland“ und Fennells „Promising Young Woman“, ist schwer vorhersehbar. Das gilt ebenso für die Nominierten in der Kategorie „Bester Internationaler Film“, darunter Jasmila Zbanics „Quo vadis, Aida?“, der bosnische Thriller um den Genozid in Srebrenica, und Thomas Vinterbergs bereits vielfach ausgezeichneter „Der Rausch“.

Immerhin einige andere sind anderweitig nachzuholen, die Theaterstückverfilmung „Ma Rainey’s Black Bottom“ um die legendäre Jazzsängerin Ma Rainey auf Netflix etwa, wo auch der ordentliche Western „Neues aus der Welt“ mit Tom Hanks und der kleinen Helena Zengel als wildem Findelkind zu sehen sind, ebenso wie das Familienaufstiegsmelodrama „Hillbilly Elegy“ und die Tierdoku „Mein Lehrer, der Krake“.

Das fantastische Ensemblestück „One Night in Miami“ von Regina King, einer der vielen zeitgemäßen Filme in diesem Jahr, die sich mit Bürgerrechten auseinandersetzen, ist auf Amazon Prime verfügbar – und hier läuft auch „Borat Anschluss Moviefilm“, für den es immerhin zwei Oscar-Chancen gibt. Auf Disney+ sind die Animationsfilme „Soul“, „Mulan“ und „Onward: Keine halben Sachen“ zu sehen. Im Kino gibt es die Oscar-Vorbereitung dann voraussichtlich wieder nächstes Jahr.