Portugals Premierminister Antonio Costa, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Europarat-Präsident Charles Michel und europäische Regierungschefs
APA/AFP/Miguel Riopa
Soziale Frage

EU steckt sich Ziele für Krise und Zeit danach

Die EU-Staaten haben sich auf ihrem Sozialgipfel in Portugal hinter konkrete Ziele bei Beschäftigung, Weiterbildung und Armutsbekämpfung bis zum Jahr 2030 gestellt. Sie verabschiedeten in Porto am Samstag eine gemeinsame Erklärung zur Stärkung der EU-Sozialpolitik vor dem Hintergrund der Coronavirus-Pandemie, welche der sozialen Frage weiter Brisanz gegeben hat.

Die Staats- und Regierungschefs begrüßten in ihrer Erklärung einen Aktionsplan der EU-Kommission zur Umsetzung einer „europäischen Säule sozialer Rechte“. Sie war beim letzten EU-Sozialgipfel im schwedischen Göteborg im Jahr 2017 verabschiedet worden und führt 20 Grundprinzipien für ein soziales Europa auf.

Der Aktionsplan nennt nun drei Hauptziele bis 2030: eine Beschäftigungsquote von mindestens 78 Prozent, Fortbildung für mindestens 60 Prozent der Erwachsenen jedes Jahr und die Verringerung der Zahl von Menschen, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, um mindestens 15 Millionen, darunter fünf Millionen Kinder. Die EU-Kommission soll Fortschritte jährlich bewerten und den Mitgliedsstaaten Empfehlungen geben, um sie zu erreichen.

In CoV-Krise junge Betroffene unterstützen

„Europa muss ein Kontinent des sozialen Zusammenhalts und des Wohlstandes sein“, heißt es in der Erklärung. „Wir werden Bildung und Kompetenzen in den Mittelpunkt unseres politischen Handelns stellen.“ Das sei auch nötig, weil der Umbruch durch Klimawandel und Digitalisierung „viele Herausforderungen mit sich bringen“ werde. Das erforderte „mehr Investitionen in Bildung, Berufsausbildung, lebenslanges Lernen, Höherqualifizierung und Umschulung“.

Viele Themen bei Sozialgipfel

Die Staats- und Regierungschefs der EU zeigten sich beim Sozialgipfel in Porto nicht bereit, die Patente für CoV-Vakzine freizugeben. Sie forderten stattdessen ein Ende der US-Exportstopps.

In der Coronavirus-Krise seien junge Menschen „sehr negativ getroffen“ worden, heißt es in der Porto-Erklärung weiter. Die EU müsse deshalb „vorrangig Maßnahmen zur Unterstützung junger Menschen ergreifen“.

„Geschlechtergleichheit“: Polen und Ungarn blockierten

Über Tage hatten die Mitgliedsstaaten vor dem Gipfel um eine Passage gerungen, die ursprünglich den Begriff „Geschlechtergleichheit“ beinhalten sollte. Polen und Ungarn blockierten das aber vor dem Hintergrund christlicher Familienbilder in ihren Ländern, weil sie darin einen Verweis auf LGBT-Rechte sahen.

Der Begriff kommt nun in der Erklärung nicht mehr vor. Europa wolle „die Geschlechterlücke bei Beschäftigung, Bezahlung und Renten schließen und Gleichheit und Fairness für jeden Einzelnen in unserer Gesellschaft fördern“, heißt es. Zudem wird auf das Grundprinzip Nummer zwei der europäischen Säule sozialer Rechte verwiesen. Dort werden nur „Frauen und Männer“ genannt.

Hoffen auf grüne und digitale Wirtschaft

Eine so weitreichende Einigung der Staaten und der Sozialpartner sei beispiellos, sagte der portugiesische Ministerpräsident Antonio Costa am Freitag. Er sprach von einem „historischen Moment“. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte, bei der Erholung von der Coronavirus-Krise und dem digitalen und grünen Wandel der Wirtschaft gehe es nun um die Schaffung von guten, zukunftsfesten Jobs und um die nötigen Qualifikationen.

Europäische Staatschefs und -chefinnen vor dem Austragfungsort des Sondergipfels in Porto
AP/Luis Vieira
Der Gipfel in Porto ist das erste physische Treffen der Staats- und Regierungschefs in diesem Jahr

Die 750 Milliarden schweren EU-Aufbauhilfen würden das unterstützen, sagte von der Leyen. Das Programm sei „größer als der Marshall-Plan“, doch müsse es nun rasch umgesetzt werden. Von der Leyen appellierte an alle EU-Staaten, den nötigen Haushaltsbeschluss noch im Mai zu ratifizieren. Dann könne die Kommission im Juni beginnen, die nötigen Darlehen auf den Finanzmärkten aufzunehmen.

Die EU-Staaten hatten sich schon 2017 auf eine „Säule sozialer Rechte“ geeinigt. Das sind 20 Grundsätze unter anderem für Chancengleichheit im Beruf, faire Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen. Diese sozialen Rechte müssten Punkt für Punkt umgesetzt werden, sagte der deutsche Sozialminister Hubertus Heil, der die deutsche Kanzlerin Angela Merkel zum Auftakt des Treffens in Porto vertrat. „Das soziale Europa ist heute wichtiger denn je.“ Merkel hatte es abgelehnt, physisch an dem Treffen teilzunehmen.

Kurz hofft auf Tourismus als Jobmotor

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zeigte sich „extrem optimistisch“, dass die Pandemie bald besiegt sei. Als Jobmotor sieht er vor allem den Tourismus mit Hilfe eines europäischen Impfzertifikats. Die Wiederherstellung des Binnenmarkts und der Reisefreiheit werde den nötigen Aufwind für die Wirtschaft bringen, sagte er. „Die Basis für einen starken Sozialstaat, für sichere Arbeitsplätze und einen erfolgreichen Standort ist der Sieg über die Pandemie“, sagte Kurz vor dem Gipfel. „Wir wollen bis in einem Jahr über 500.000 Menschen zurück in die Beschäftigung bringen.“

„Es geht darum den Arbeitsmarkt insgesamt in Europa zu beleben, zukunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen“, sagte Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP). „Entscheidend ist die Impfung“, betonte auch Kocher. Zur umstrittenen EU-Mindestlohnrichtlinie zeigten sich der Kanzler und der Arbeitsminister weiter kritisch. „Gut gemeint ist nicht immer gut“, so Kocher. Österreich sei sich mit anderen Ländern mit einer gut gewachsenen Sozialpartnerschaft einig, dass diese Autonomie zu sichern sei. Das sei beim aktuellen Vorschlag noch nicht sicher.

„Wir haben derzeit sehr unterschiedliche Systeme in den Mitgliedsstaaten, wir haben ganz unterschiedliche Lohnniveaus“, betonte auch Kurz. Insofern seien auch die Sozialstandards sehr unterschiedlich. „Wir haben natürlich ein Interesse an möglichst hohen Sozialstandards in ganz Europa. Wir wollen aber auf keinen Fall unsere Standards nach unten nivellieren.“ Das gelte auch für die Höhe der Löhne, die höher als in vielen EU-Staaten seien. „Hier wollen wir keine Nivellierung nach unten“, so Kurz.

Mückstein zufrieden

Die grüne Regierungsmannschaft war in Porto nicht vertreten. Sozialminister Wolfgang Mückstein (Grüne) lobte am Samstag aber die Gipfelergebnisse. Sie könnten „sich durchaus sehen lassen“, so Mückstein in einer Aussendung. Es gebe nun ein gemeinsames „Bekenntnis, entschlossen in ganz Europa soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen, Krisenfestigkeit aufzubauen und die Menschen bei der Bewältigung des ökologischen und digitalen Wandels zu unterstützen“, so der Sozialminister. Er begrüße es, „dass sich Europa neuerlich konkrete Ziele in den Bereichen Beschäftigung, Ausbildung und Armutsbekämpfung setzt“. Das EU-weite Ziel der Reduktion der von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen Menschen um zumindest 15 Millionen bis 2030 sei gerade angesichts der sozialen Folgen der Pandemie von besonderer Bedeutung. Insbesondere der spezielle Fokus auf Kinder sei ihm sehr wichtig, so Mückstein, der dringend „konsequente Maßnahmen zur raschen Umsetzung der beschlossenen Ziele“ forderte.

Grüne sehen vergebene Chance

Mücksteins Parteikollegin Monika Vana übte unterdessen Kritik an den bisher bekannten Ergebnissen. Es sei die „große Chance“ vergeben worden, „die sozialpolitische Säule der EU aus ihrer Schieflage zu befreien und damit die Sozialunion gleichwertig und gleichgewichtig neben die Wirtschafts- und Währungsunion zu stellen“, so Vana, Delegationsleiterin der österreichischen Grünen, in einer Aussendung.