Schätzungen zufolge befinden sich 85 bis 90 Prozent des afrikanischen Kulturerbes in europäischen Museen, vielfach handelt es sich um koloniale Raubkunst. Wie umgehen damit? Zurückgeben, als Dauerleihgabe ausborgen, behalten? Die Debatte hält seit wenigen Jahren Europa in Atem – mit konkreten Konsequenzen: Erst kürzlich entschied sich Deutschland, Teile der Benin-Bronzen zurückzugeben. „Eine positive Entwicklung, eine überfällige Entscheidung“, nennt das Savoy gegenüber ORF.at.
Die 48-jährige Wissenschaftlerin, die an der TU Berlin und an der Pariser Sorbonne lehrt, ist dieser Tage eine vielgefragte Gesprächspartnerin, gilt sie doch als zentrale Figur, die mit klarer Haltung und großer Expertise die in Restitutionsfragen unbeweglichen Direktoren ethnografischer Museen in Bedrängnis bringt. Größere Bekanntheit erlangte sie, als sie 2018 gemeinsam mit dem senegalesischen Ökonomen Felwine Sarr für Frankreich im Auftrag von Präsident Emmanuel Macron eine vielbeachtete Studie über die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes vorlegte.
Seitdem diskutiert Europa. Aber nicht zum ersten Mal, wie Savoys vor zwei Monaten erschienene Studie „Afrikas Kampf um seine Kunst“ belegt, die seitdem hohe Wellen schlägt. Was gerne als neuer „Hype“ einer postkolonialen Übersensibilität abgetan wird, ist, wie das Buch zeigt, nämlich eine alte Debatte: „Fast jedes Gespräch, das wir heute über die Restitution von Kulturgütern nach Afrika führen, fand vor 40 Jahren schon einmal statt“, schreibt Savoy.
Sammeln war „selten unschuldig“
Aber zunächst zum neuen Buchprojekt: Dieser Tage legt Savoy gemeinsam mit einem Forscherkollektiv ihr zweites Frühjahrsprojekt vor, eine 850 Seiten zählende Doppelpublikation, bestehend aus einem Bilderatlas und einer Anthologie. Das kurz „Beute“ genannte Projekt gräbt historisch noch viel tiefer, indem es das Thema „Kunstraub“ und „Beutekunst“ in Form einer Materialsammlung in der ganzen weltgeschichtlichen Breite auffächert, als eine durch die Jahrhunderte gängige Praxis: „Das Sammeln war selten unschuldig.“

Die Bände setzen 600 vor Christus ein und enden 2015. Mit historischen Bildquellen und einem doch eher ungewöhnlich klingenden Autorenmix von Cicero, Johann Wolfgang von Goethe, Aime Cesaire oder Francois Mitterand führen sie in die unterschiedlichsten Sphären von Macht- und Überlegenheitsansprüchen: Von der Beutenahme Roms im antiken Griechenland über die napoleonischen Eroberungen, verschiedene Kontexte kolonialer „Sammelaktivitäten“, die Zerstörung von Kunst unter den Nationalsozialisten bis hin zu den gegenwärtigen Restitutionsdebatten.
Kein Masternarrativ
Die große thematische Breite bewältigt man mittels eines „multiperspektivischen“ Zugangs des Forscherteams – hinter dem Buch steht eine Gruppe unterschiedlich spezialisierter Kunsthistorikerinnen und -historiker der TU Berlin, Savoys Heimatuniversität. Keine „große Erzählung“, kein „Masternarrativ“ nennt einer der Herausgeber die Ausrichtung. So gerät man nicht in die Verlegenheit, ganz unterschiedliche Kontexte tatsächlich vergleichen zu müssen.

Das Ergebnis ist damit weniger ein stringenter Wurf oder eine deutliche Herausarbeitung wiederkehrender Muster als vielmehr eben beeindruckende Materialfülle, die Bild für Bild und Text für Text hinter die Argumentationsstrukturen, Rechtfertigungen und Inszenierungen der Raubkunst blicken lässt.
„Rettungserzählung“ als Verschleierung von Gewalt
Lange galt unwidersprochen das Recht des Siegers, vom Besiegten Beute zu nehmen. Als dieses Recht infrage gestellt wurde, waren rasch Argumente gefunden, um Facetten von Gewalt und Demütigung zu verschleiern und diese Praxis beizubehalten. Ab dem 18. Jahrhundert wurden, so legt die „Beute“-Anthologie dar, „Translokationen“ in eine Aura von Wissenschaftlichkeit gehüllt. Der Akt der Beutenahme wurde in das Licht eines uneigennützigen, vor dem endgültigen Verlust beschützenden Bewahrens gestellt, wie hier etwa koloniale Bildsujets von Louis Delaporte von 1880 belegen.
Ein Kupferstich zeigt, wie der französische Forschungsreisende antike Schätze aus Ankor, dem heutigen Kambodscha, vor den Überwucherungen des Dschungels rettet. Das „Rettungsnarrativ“ greift etwa auch der DEFA-Film „Fünf Tage – Fünf Nächte“ (1961) auf, der die sowjetische Beschlagnahmung von Trophäen 1945 aus den ostdeutschen Museen als gefährliche Bergung in den letzten Kriegstagen rahmte.

Museum als „absolute Rechtfertigungsmaschine“
Auch heute werde die Vorstellung einer „Rettung“ durch Musealisierung noch bedient, meint Savoy, mit Blick auf das, wie es heißt, „Herzstück des Berliner Humboldt-Forums“, das Südseeboot der Insel Luf, dessen Geschichte sich kürzlich der Historiker Götz Aly angenommen hat: „Hätten wir es nicht genommen, so wäre das Boot verschollen oder vermorscht“, so lautet das nach außen transportierte Narrativ.

Der Vorwand der öffentlichen Zugänglichmachung einer sonst nicht sichtbaren Kunst hatte bereits Napoleon argumentatives Futter für seine Beutenahmen gegeben, ehe es im kolonialen Kontext zentral wurde. Stichwort „es gibt keine Museen in Afrika“, ein übrigens längst obsolet gewordenes Argument. „Dabei wurde ausgeklammert, dass nicht nur die westliche Bevölkerung Interesse hat, diese Dinge zu sehen“, so Isabelle Dolezalek von der „Beute“-Forschungsgruppe. Das Museum sei „seit circa 200 Jahren eine absolute Rechtfertigungsmaschine“, spitzt es Savoy zu.
Kraftnahrung für Afrikas Zukunft
Den Beleg für diese These liefert auch das schon angesprochene Buch „Afrikas Kampf um seine Kunst“. Die Studie, für die Savoy in Staats-, Museums- und Zeitungsarchiven recherchierte, setzt 1960 ein, als der Großteil der kolonialisierten afrikanischen Länder unabhängig wurde. Mit dem Wunsch, an ihre alte kulturelle Identität wieder anzuknüpfen, wandten sich die neuen Staaten damals an Europas Institutionen. Das Ansuchen: einige Dauerleihgaben.
Programmhinweis
Am Montag, dem 17. Mai, spricht Benedicte Savoy live im „kulturMontag“ über die Raubkunstdebatte, ab 22.30 Uhr, ORF2.
„Wir brauchen Kraftnahrung für die Zukunft“, so fasst Savoy die Intention der afrikanischen Akteure zusammen. Die Briefe landeten ab 1972 auf den Schreibtischen in Frankreich, Deutschland, Belgien, Nordamerika und Österreich und führten in den kommenden zwei Jahrzehnten zu intensiven, auch vor der UNO und der UNESCO geführten Diskussionen. Bei den außenpolitischen Stellen stießen sie – im Sinne des Bestrebens einer erneuerten Beziehung – durchaus auf Verständnis, nicht aber in den Museen.
Savoy schildert, wie sich Museumsdirektoren, die meist schon im Nationalsozialismus Karriere gemacht hatten und offenkundig auch nach 1945 einem rassistischen Menschenbild nachhingen, systematisch mit unterschiedlichen Tricks der Debatte entzogen. „Zeit gewinnen, retardierende Maßnahmen treffen, auf Legalität des Erwerbs hinweisen, Intransparenz, unterschwelliger Rassismus“, so fasst Savoy zusammen, wie sich die Institutionen schließlich erfolgreich zur Wehr setzten. Die Debatten wurden wieder in den Schubladen verräumt.
„Es könnte sein, dass man etwas findet“
Auch im Weltmuseum in Wien sollen heute 60 bis 90 Prozent der Bestände aus kolonialem Kontext stammen, darunter auch 196 Objekte aus dem Königreich Benin, die aktuell besonders im Fokus stehen. Erworben wurden sie größtenteils auf dem Londoner Kunstmarkt, ihre Inbesitznahme geht jedoch auf Plünderungen 1892 durch britische Soldaten zurück.
Das ehemalige Wiener Völkerkunde Museum kommt in „Afrikas Kampf um seine Kunst“ nur am Rande vor, was, so Savoy, aber nicht heißt, dass die Debatte nicht auch in Österreich stattfand. Sie habe schlicht andere Archive befragt: „Es könnte sein, dass man durchaus etwas findet, wenn man anfängt zu kratzen.“ Jedenfalls wird die Aufarbeitung des kolonialen Kulturguts wohl auch Österreich in der Zukunft noch stärker beschäftigen – so viel scheint gewiss.