Explosion in Gaza
Reuters/Ibraheem Abu Mustafa
Israel – Hamas

Warnungen vor Eskalation mehren sich

Die Gewalt in Nahost hat binnen weniger Tage das schlimmste Ausmaß seit Jahren erreicht. Dutzende Menschen kamen infolge der gegenseitigen Angriffe ums Leben: Aus dem Gazastreifen wurden bisher 48 Tote gemeldet, aus Israel sechs. International häufen sich nun die Warnungen vor weiterer Gewalt.

Die UNO forderte, die Gefechte umgehend einzustellen. Andernfalls drohe ein vollständiger Krieg. Der UNO-Sicherheitsrat will am Mittwoch beraten. Russland, Großbritannien und die USA riefen alle Seiten zur Zurückhaltung auf – dem schloss sich Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) an, der zur Deeskalation aufrief. Zugleich verurteilte er die Angriffe auf Israel scharf und betonte das Recht Israels auf Selbstverteidigung. Priorität sollten nun Deeskalation und die Verhinderung ziviler Opfer auf beiden Seiten haben, sagte EU-Ratspräsident Charles Michel.

Alarmiert zeigte sich auch die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Fatou Bensouda. Sie warnte vor der Gefahr von Kriegsverbrechen. Bensouda gab im März die Eröffnung von Ermittlungen zu Vorfällen während des Gaza-Krieges im Sommer 2014 bekannt.

Die „kriminellen Handlungen“ Israels hätten die Lage in der Region deutlich verschlechtert, sagte hingegen der iranische Außenminister Mohammed Dschawad Sarif bei einem Besuch in Syrien. Der Iran und Syrien sind beide mit Israel verfeindet. Das irankritische Bündnis „Stop the bomb“ gab Teheran indes eine Mitschuld an den Raketenangriffen. China und die Türkei forderten den UNO-Sicherheitsrat indes zum Handeln auf. Die UNO müsse „entschlossene und klare Botschaften“ finden, um die „Angriffe Israels“ zu stoppen, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zudem.

Ausgebrannte Synagoge in Lod
Reuters/Ronen Zvulun
In Lod wurde im Zuge von Ausschreitungen eine Synagoge in Brand gesetzt

Israel meldet 1.000 Raketen aus Gaza

Die Gewalt reißt nach Tagen der Zusammenstöße und Angriffe auf beiden Seiten nicht ab: Nach Angaben des israelischen Militärs feuerten radikalislamische Palästinenser bis Mittwochfrüh rund 1.000 Raketen auf Israel, dessen Militär Hunderte Ziele im Gazastreifen aus der Luft angriff. Für den Gaza-Einsatz gebe es noch kein Enddatum, sagte Israels Verteidigungsminister Benni Ganz am Mittwoch.

Der bewaffnete Flügel der Hamas feuerte nach eigenen Angaben 210 Raketen in Richtung Tel Aviv und Beerscheva. Sirenengeheul warnte die Bevölkerung. Rund ein Drittel der Geschoße schaffte es nach israelischen Angaben nicht über das Gebiet des Küstenstreifens hinaus.

Doch in Rischon Lezion, einem Vorort von Tel Aviv, traf eine Rakete ein Gebäude, wodurch eine Frau ums Leben kam. Zwei weitere Frauen seien zudem bei Einschlägen in Aschkelon getötet worden. In dem arabisch-jüdischen Ort Lod bei Tel Aviv starben zwei Menschen, als eine Rakete ein Fahrzeug traf. Eine weitere Person kam durch eine Panzerabwehrrakete ums Leben. Mehr als 200 Israelis sollen Militärangaben zufolge bisher verletzt worden sein.

Hamas gegen Israel: Konflikt vor Eskalation

Bei den bisher schwersten Raketenangriffen der Hamas auf den Großraum Tel Aviv sind in der Nacht auf Mittwoch mehrere Israelis getötet worden. Heftige Angriffe der israelischen Luftwaffe auf den Gazastreifen waren die Folge.

Zusammenstöße zwischen Juden und Arabern in Israel

In Lod selbst war es am Dienstagabend zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern gekommen. Nach Medienberichten schändeten arabische Einwohner eine Synagoge und setzten sie in Brand. Außerdem seien Dutzende Autos angezündet und Fenster von Geschäften eingeworfen worden.

Der Bürgermeister von Lod, Jair Revivo, sprach im Fernsehen von einem „Bürgerkrieg“ in der Stadt und forderte eine sofortige Ausgangssperre. Um für Ruhe zu sorgen, wurden zahlreiche weitere Polizeitruppen in die Stadt geschickt.

In Lod habe ein „Pogrom“ stattgefunden, sagte der israelische Präsident Reuven Rivlin am Mittwoch. Die derzeitigen Unruhen im Land würden durch einen „blutrünstigen arabischen Mob“ verursacht, der Menschen verletze und sogar „heilige jüdische Orte“ angreife, sagte Rivlin. Das sei „unverzeihlich“. Auch in den arabisch geprägten Orten Akko im Norden des Landes und in Jaffa bei Tel Aviv kam es zu schweren Zusammenstößen.

Bub schaut aus einem Fenster auf ein zerstörtes Gebäude in Gaza Stadt
APA/AFP/Mohammed Abed
Israels Luftwaffe reagierte auf den Raketenbeschuss nach eigenen Angaben mit dem umfangreichsten Bombardement des Gazastreifens seit 2014

Israel bombardierte Gazastreifen

Israel nahm als Reaktion auf die Raketenangriffe zahlreiche Hamas-Ziele ins Visier. 80 Kampfjets waren nach Angaben des israelischen Militärs an den Angriffen beteiligt. Außerdem seien Infanterieeinheiten zur Verstärkung der bereits an der Grenze zum Gazastreifen postierten Panzer entsandt worden.

Büros der militanten Gruppe und Häuser von Hamas-Anführern seien ebenso angegriffen worden wie Raketenstellungen. Die israelische Armee teilte auch mit, dass bei den Angriffen auch der Chef des militärischen Geheimdienstes der Hamas, Hassan Kaogi, und sein Vize Wail Issa „neutralisiert“ – also getötet – worden seien. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza beträgt die Zahl der seit Montag getöteten Palästinenser 48 – darunter 14 Kinder und drei Frauen. 304 Menschen seien verletzt worden.

Auch ein 13-stöckiger Wohn- und Bürokomplex wurde bombardiert. Videoaufnahmen zeigten dicke schwarze Rauchwolken, die von dem Gebäude aufstiegen. Wenig später stürzte es ein. Bewohner des Blocks und der Umgebung waren nach Angaben von Augenzeugen und des Militärs vor dem Angriff gewarnt worden, sich in Sicherheit zu bringen. Auch ein anderes Gebäude in dem Viertel wurde schwer beschädigt. Bewohner und Journalisten, die dort arbeiteten, hatten das Haus zuvor verlassen.

Israel und Hamas mit gegenseitigen Drohungen

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu warnte, die Extremisten würden einen „sehr hohen“ Preis für den Raketenbeschuss bezahlen. Ganz sagte, es würden auch weiterhin „Gebäude zerbröckeln“. Hamas-Anführer Ismail Hanija warf Israel vor, die Gewalt ausgelöst zu haben. Es sei daher für die Konsequenzen verantwortlich. Seine Botschaft an die Israelis laute: „Wenn sie eskalieren wollen, ist der Widerstand bereit. Wenn sie aufhören wollen, ist der Widerstand bereit.“

Schwerste Gefechte seit 2019

Die schwersten Gefechte zwischen Israel und den Palästinensern seit 2019 hatten am Montag begonnen. In den Tagen zuvor war es an der Al-Aksa-Moschee in Ostjerusalem zu Ausschreitungen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften gekommen. Die Hamas forderte ultimativ unter anderem deren Abzug und feuerte nach dem Verstreichen der Frist ihre ersten Raketen ab.

Die Al-Aksa-Moschee liegt in der Altstadt Jerusalems auf einem Gelände, das die Juden Tempelberg und die Muslime edles Heiligtum nennen. Am Sonntag und Montag begingen Israelis den Jerusalem-Tag, mit dem sie an die Eroberung Ostjerusalems 1967 erinnern. Das fiel in diesem Jahr mit dem letzten Teil des muslimischen Fastenmonats Ramadan zusammen.

Zwangsräumung als Anlass

Der Konflikt hatte sich ursprünglich im Ostjerusalemer Stadtviertel Scheich Dscharrah entflammt, weil dort 30 Palästinenser mit der Zwangsräumung ihrer Wohnungen rechnen müssen. Ein für Montag geplanter Gerichtstermin zu den Zwangsräumungen wurde am Sonntag verschoben. Anfang des Jahres hatte das Bezirksgericht entschieden, dass die Häuser der vier betroffenen Familien rechtmäßig jüdischen Familien gehören.

Karte von Ostjerusalem
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Nach israelischem Recht können jüdische Israelis vor Gericht Besitzanspruch auf Häuser in Ostjerusalem anmelden, wenn ihre Vorfahren vor dem arabisch-israelischen Krieg (1948/49) dort im Besitz von Grundstücken waren. Für Palästinenser, die ihr Eigentum ebenfalls infolge des Krieges verloren haben, gibt es kein solches Gesetz.

Innerpalästinensische Konkurrenz

Auch die Konkurrenz zwischen der Hamas und der Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas dürfte eine Rolle spielen. Die Hamas gab ihren Raketenangriffen den Namen „Schwert von Jerusalem“ und beanspruchte damit den Status als Beschützer der dort lebenden Palästinenser. Abbas sieht dagegen sich als Vertreter aller Bürger. Die Hamas regiert den Gazastreifen, die Fatah das Westjordanland.

Abbas verschob jüngst die für den 22. Mai geplante Parlamentswahl, bei der Experten zufolge die Hamas wohl zugelegt hätte. Es wäre die erste derartige Abstimmung seit 15 Jahren gewesen. Auch die für Juli geplante Präsidentenwahl wurde abgesagt. Der 85-jährige Abbas ist seit 2005 im Amt. Für die Hamas ist die Demonstration der Stärke und Provokation Israels ein Mittel, um sich gegenüber der Bevölkerung und der arabischen Welt als die wahre Verteidigerin der palästinensischen Interessen darzustellen.

Eine Radikalisierung könnte auch auf das Westjordanland übergreifen und die Herrschaft der Fatah gefährden. Freilich könnte sich die Haltung gegenüber der Hamas ändern, wenn Israels Militärschläge zu viele Opfer und Zerstörung bringen.