Gebetsfahnen in einer Landschaft
Getty Images/500px/Michael Strasser
Neuer Enard

Buddha auf dem Dorfe

Mit „Zone“ ist Mathias Enard 2010 der internationale Durchbruch gelungen, mit „Kompass“ hat er 2015 den Prix Goncourt gewonnen. In seinem jüngsten Roman „Das Jahresbankett der Totengräber“ legt er einen fulminanten vielstimmigen Roman über die Geschichte seiner Herkunftsregion Deux-Sevres in Westfrankreich durch die Jahrhunderte vor, der mit einem brillanten Kniff arbeitet: Sein Erzähler ist Buddha.

Erst nach gut hundert Seiten beginnt man zu ahnen, welche schelmische Perspektive Enard seinem neuen Roman gegeben hat. Bis dahin amüsiert man sich über den naseweisen und recht anmaßenden Anthropologen David, der für seine Dissertation über das moderne Landleben im kleinen Dorf La Pierre-Saint-Christophe Feldforschung betreibt.

Mitten im Winter mietet er sich in einer kleinen Wohnung in der beschaulichen Umgebung ein. Dass er diese Unterkunft – nach einem berühmten Buch der französischen Koryphäe der Ethnologie, Claude Levi-Strauss – das „Wilde Denken“ tauft, zeugt genauso von seinem wissenschaftlichen Hochmut wie seine Träume von einer herausragenden Studie über das moderne Landleben. Davids Forschungstagebuch ist aber vor allem eines: eine lange Einleitung in diesen wilden Roman, der zeigt, worin der Ethnologe irrt.

„David erlaubt es mir, die Leser in das Dorf einzuführen“, erzählt Enard im Gespräch mit ORF.at. „Er ist ein Fremder und sieht alles von außen. Dieser externe ethnologische Blick versucht ja immer zu vermitteln, was wir nicht kennen. Aber David ist auch meine Art, mich über die großen Ethnologen wie Bronislaw Malinowski und Claude Levi-Strauss ein wenig lustig zu machen.“

Scheiternde teilnehmende Beobachtung

Die teilnehmende Beobachtung, die grundlegende Methode seiner Wissenschaft, geht vor David gehörig schief. Zum Teil, weil er mit seinen Fragen an die Dorfbewohner nur an der Oberfläche kratzt und den Strukturwandel im ländlichen Raum nicht gänzlich in seine Hypothesen einbezieht. Natürlich gibt es im Dorf noch Ursprüngliches: vereinzelte Landwirte, den Bürgermeister, der auch der Bestattungsunternehmer des Dorfes ist, und eine kleine Dorfbar, um die sich das soziale Leben des fiktiven Ortes strukturiert.

Der französische Schriftsteller Mathias Enard.
APA/AFP/Daniel Leal-Olivas

Mathias Enard studierte in Paris Orientalistik, verbrachte mehrere Jahre im Nahen Osten und lehrte bis zu seinem literarischen Durchbruch Arabisch an der Universidad Autonoma in Barcelona, wo er seit 2000 lebt.

Längst hat aber die Gegenwart in La Pierre-Saint-Christophe Einzug gehalten. Englische Pensionisten, die ihren Traum vom ruhigen Landleben mit großem Garten verwirklichen, leben hier ebenso wie ein Pariser Künstler, der in seinem Atelier in einem geräumigen ehemaligen Hof seine Rückkehr in die Kunstszene der Metropole vorbereitet. Von diesem neuen Dorfgefüge ist David anfangs ebenso überrascht wie vom Modernisierungsgrad der landwirtschaftlichen Betriebe.

Und dann ist da noch Lucie, eine unangepasste Biobäuerin, deren Familie im Ort seit Generationen verwurzelt ist. Das Modell für ihre Kindheitserinnerungen sind jene Enards: „Ich bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen, mit viel Landwirtschaft rundherum. Meine Kindheit war sehr frei, ich spielte den ganzen Tag an der frischen Luft. Es gab einen Wald und einen Fluss, ein richtiger Abenteuerspielplatz. Diese Erinnerungen habe ich Lucie geborgt.“

Am Ende des Romans werden einander David und Lucie nahe kommen. Der Ethnologe scheitert gänzlich an dem Balanceakt zwischen Involvierung in sein Beobachtungsfeld und genügend Distanz, um es zu erforschen. Malinowski beschrieb das „Going Native“, also das Risiko, sich in das Beobachtungsfeld dermaßen zu integrieren, dass man gewissermaßen zum „Eingeborenen“ werde, als größte Gefahr der ethnologischen Feldforschung.

Jenseits von Descartes und Leibniz

Davids Scheitern ist aber auch ein Scheitern seiner wissenschaftlichen Perspektive: Im Kern ist „Das Jahresbankett der Totengräber“ nämlich eine humorvolle und lustvolle Kritik am wissenschaftlichen Denken und Ableiten westlicher Prägung. Hinter dem Rationalismus, der sich etwa in der Folge des Denkens von Rene Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelte und als deren moderner, etwas linkischer Proponent David auftritt, tut sich eine Ordnung der Welt auf, der mit Hypothese und Analyse nicht beizukommen ist.

Der wahre Erzähler des Romans ist nämlich allwissend, womöglich handelt es sich um Buddha selbst. „Mein allwissender Erzähler ist sehr ungewöhnlich. Er ist Buddhist und sieht alle Reinkarnationen der Figuren“, erzählt Enard. Es ist dieser besondere Einfall, mit dem die Perspektive eines allwissenden Erzählers, die ja seit der literarischen Moderne zunehmend in Bedrängnis kam, überhaupt in einem Gegenwartsroman funktionieren kann, ohne hoffnungslos antiquiert zu wirken.

Kreislauf des Lebens
„Samsara“, das buddhistische Rad des Lebens, in einer traditionellen Darstellung. Es zeigt die Formen der Reinkarnation.

Alles ist für den Erzähler miteinander verbunden und Reinkarnation eine Selbstverständlichkeit. Zum Beispiel weiß er auch, dass David beim Interview mit Lucies Großvater der Geschichte des Ortes ein gutes Stück hätte näher kommen können: „Wäre er scharfsinniger oder interessierter gewesen, hätte der junge Forscher vielleicht die Geschichte der Eltern des alten Mannes erfahren“, heißt es im Roman.

Drehen am Lebensrad

Diese Geschichte ist eine von Gewalt und Niedertracht, Themen, die Enard schon in „Zone“ umtrieben. Damals erzählte er in einem einzelnen Satz über Hunderte Seiten die Geschichte europäischer Kriegsverbrechen als Bewusstseinsstrom. Homer, Dante und James Joyce wurden da fulminant in die Gegenwart geholt.

Bild zeigt das Cover des Buches " Das Jahresbankett der Toten Gräber"
Hanser Berlin

Mathias Enard: Das Jahresbankett der Totengräber. Hanser Berlin, 480 Seiten, Euro 26,80.

Im „Jahresbankett der Totengräber“ wird die Ordnung der Zeit selbst außer Kraft gesetzt. So kann etwa Jeremie, der unglückliche Ziehvater von Lucies Großvater, nach seinem Selbstmord, in den er aus der sozialen Ächtung des Dorfes flüchtet, als der Barockdichter Theodore Agrippa d’Aubigne wiedergeboren werden, der in den Hugenottenkriegen des 16. Jahrhunderts eine Rolle spielte.

Zwischen den Zeiten gibt es in dem Roman Rückübertragungen des Leids, die nur geschildert werden können, weil der Erzähler die Geschichte des westfranzösischen Landstrichs in einer Allschau überblickt. Er allein versteht, dass „alles miteinander zusammenhängt, dass alle Feindseligkeit fortdauert und sich in den wandernden Seelen ansammelt wie Schlick“.

Das buddhistische Samsara, der Kreislauf von Tod und Wiedergeburt, dient dem Roman als Strukturmodell und erlaubt Enard ohne Umschweife, die Schlachten Chlodwigs I. im sechsten Jahrhundert mit Perspektiven in der Zukunft, die bis ins von der Klimakrise verwüstete 22. Jahrhundert reichen, zu verschalten.

Bestattung als ältestes Gewerbe

Dabei ist der Blick auf die Figuren nie düster oder anklagend, sondern immer wohlwollend und gütig, obwohl das gesamte Romanpersonal aus karmischer Sicht im Abstieg begriffen ist – und schon einmal vom lüsternen Pfarrer zum Wildschwein oder vom brutalen Trunkenbold zum Insekt reiinkarniert. Eine Kontinuität des Romans bilden Totengräberfiguren, allen voran der Bürgermeister und Totengräber von La Pierre-Saint-Christophe. Sie sind immer dort zur Stelle, wo eine Figur in ein neues Leben wechselt, und verlachen den Tod, weil sie nur allzu gut um seine Schrecken wissen.

Einmal im Jahr treffen sich die Mitglieder der Bruderschaft der Totengräber zu einem mehrtägigen Trinkgelage, dem titelgebenden Jahresbankett. Dabei erzählen sie Geschichten, die auch einmal Anleihen an Francois Rabelais Romanzyklus „Gargantua und Pantagruel“ nehmen, und diskutieren Gendergerechtigkeit im Bestattungsgewerbe.

Bild zeigt das Gemälde „Die Chewra Kadischa am Lager des Sterbenden“
Public Domain
Das Gemälde aus dem 18. Jahrhundert zeigt die Prager Beerdigungsbruderschaft bei der Begleitung eines Sterbenden

Die Grundidee zum namensgebenden Bankett sei ihm beim Besuch der Zeremonienhalle des jüdischen Friedhofs in Prag gekommen, so Enard. Dort zeigt eine Ausstellung die Geschichte der „Chewra kadischa de-gomle chasadim“, der Prager Beerdigungsbruderschaft der frühen Neuzeit, deren Arbeit überaus wichtig für die jüdische Gemeinde war: „Auf mehreren Bildern aus dem 18. Jahrhundert sieht man dort die Arbeit der Bruderschaft dargestellt. Eines der Bilder zeigt tatsächlich ein Jahresbankett der Beerdigungsbruderschaft. In meiner Imagination habe ich das dann ausgebaut. Bei mir gibt es während des Jahresbanketts einen Waffenstillstand zwischen Leben und Tod, und niemand stirbt während dieser Tage.“

Überhaupt üben Bestattungsriten eine große Faszination auf Enard aus, erzählt er: „Soweit wir wissen, beginnt die Geschichte der Menschheit mit der Sorge um die Toten. Diese Sorge, die Riten kommen, glaube ich, aus einer Form des Unverständnisses gegenüber dem Tod. Woher kommt diese Ungerechtigkeit, dass jemand, der sich vor einer Minute noch bewegt hat und geatmet hat, plötzlich für immer weg ist?“ Die Riten und ihr Platz in der Kulturgeschichte sind ein durchgehendes Leitmotiv dieses Romans, der erzählerisch aus dem Vollen schöpft.

Mit seiner gewagten Konstruktion schafft es Enard in „Das Jahresbankett der Totengräber“, nachvollziehbar zu machen, was nur in einem vielstimmigen Roman darstellbar ist. Durch das Ergründen der Gedanken und Motive der Figuren und das Wissen um deren Reinkarnationen zeigt er die Verbindung zwischen allen Lebensformen und die Beschränktheit der menschlichen Perspektive auf die Umwelt.