Maneskin (Italien) mit Trophäe
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Italien siegt

Rock ’n’ Roll erobert den Song Contest

Favoritensieg und dennoch Überraschung beim Song Contest: Die italienische Rockband Maneskin ist Samstagnacht als Sieger aus dem Bewerb hervorgegangen. Zwar waren sie auch bei den Buchmachern vorn gelegen, bis zuletzt blieb aber die Frage, ob der ganz und gar untypische Song „Zitti E Buoni“ das Rennen machen kann. Dank Publikumswertung überholte Italien noch die Jurylieblinge Schweiz und Frankreich.

524 Punkte hatten die Italiener am Ende auf ihrem Konto, 318 davon aus den international addierten Publikumsvotings. Die vierköpfige Band trat in Glamrock-Manier und Lederkluft auf und lieferte eine klassische Rockshow ab – und befeuerte damit vor allem eines: Die Sehnsucht nach Livekonzerten nach Monaten der Pandemie und der Lockdowns. Starken Refrain hat der Song eigentlich keinen: Sänger Damiano David quittierte den Sieg mit einem lauten „Rock ’n’ Roll will never die“, ehe er das Siegerlied noch einmal zum Besten gab.

Der Sieg Italiens ist auch verdient, wenn man auf die Bewerbe der vergangenen Jahre zurückblickt: Kaum ein anderes Land hatte zuletzt durchgängig qualitativ so hochwertige und originelle Beiträge zum Bewerb geschickt. Francesco Gabbani wurde 2017 Sechster, Ermal Meta & Fabrizio Moro holten ein Jahr darauf den fünften Platz, und Rapper Mahmood scheitere 2019 nur am niederländischen Sieger Duncan Laurence.

Italien: Maneskin „Zitti E Buoni“

„Ein Aufatmen für Italien“

Die italienische Band zeigte sich nach dem Sieg freilich überglücklich: „Eurovision bedeutet ganz Europa eine Menge und ist ein Leuchtturm“, verkündete Frontmann Damiano David mit nacktem Oberkörper und Champagnerflasche in der Pressekonferenz: „Wir glauben, dass das gesamte Event ein Aufatmen für Italien bedeutet.“ Und er berichtet über große Emotionen nach dem Voting: „Es fühlt sich an, als würde unser ganzer Weg seit unserem Beginn Sinn ergeben. Und es ist einfach auch verdammt spaßig!“

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Zypern, Elena Tsagrinou,"El Diablo"
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Zypern: Elena Tsagrinou mit „El Diablo“
Anxhela Peristeri
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Albanien: Anxhela Peristeri mit „Karma“
Israel, Eden Alene, „Set Me Free“
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Israel: Eden Alene mit „Set Me Free“
Belgien, Hooverphonic, „The Wrong Place“
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Belgien: Hooverphonic mit „The Wrong Place“
Russland, Manizha, „Russian Woman“
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Russland: Manizha mit „Russian Woman“
Malta, Destiny, „Je me casse“
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Malta: Destiny mit „Je me casse“
Portugal, The Black Mamba, „Love Is On My Side“
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Portugal: The Black Mamba mit „Love Is On My Side“
Serbien, Hurricane, „Loco Loco“
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Serbien: Hurricane mit „Loco Loco“
Großbritannien (UK), James Newman, „Embers“
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Großbritannien: James Newman mit „Embers“
Griechenland, Stefania, „Last Dance“
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Griechenland: Stefania und „Last Dance“
Schweiz, Gjon’s Tears, „Tout l’univers“
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Schweiz: Gjon’s Tears mit „Tout l’univers“
Island, Daði og Gagnamagnið, „10 Years“
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Island: Dadi og Gagnamagnid mit „10 Years“
Spanien, Blas Cantó, „Voy a quedarme“
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Spanien: Blas Canto mit „Voy a quedarme“
Moldau, Natalia Gordienko, „Sugar“
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Moldawien: Natalia Gordienko mit „Sugar“
Deutschland, Jendrik, „I Don’t Feel Hate“
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Deutschland: Jendrik mit „I Don’t Feel Hate“
Finnland, Blind Channel, „Dark Side“
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Finnland: Blind Channel mit „Dark Side“
Bulgarien, Victoria, „Growing Up Is Getting Old“
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Bulgarien: Victoria mit „Growing Up Is Getting Old“
Litauen, The Roop, „Discoteque“
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Litauen: The Roop mit „Discoteque“
Ukraine, Go_A, „Shum“
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Ukraine: Go_A mit „Shum“
Frankreich, Barbara Pravi, „Voilà“
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Frankreich: Barbara Pravi mit „Voila“
Aserbaidschan, Efendi, „Mata Hari“
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Aserbaidschan: Efendi mit „Mata Hari“
Norwegen, Tix, „Fallen Angel“
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Norwegen: Tix mit „Fallen Angel“
Niederlande, Jeangu Macrooy, „Birth Of A New Age“
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Niederlande: Jeangu Macrooy mit „Birth Of A New Age“
Italien, Måneskin, „Zitti e buoni“
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Italien: Maneskin mit „Zitti e buoni“
Schweden, Tusse, „Voices“
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Schweden: Tusse mit „Voices“
San Marino, Senhit feat. Flo Rida, „Adrenalina“
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San Marino: Senhit feat. Flo Rida mit „Adrenalina“

Dass sie beim TV-Publikum höher im Kurs standen als bei den Jurys erfreute Bassistin Victoria De Angelis: „Der Fakt, dass so viele Menschen für uns gestimmt haben, hat viel mehr Wert als eine Jury – no offence.“

Frankreich und Schweiz auf zwei und drei

Platz zwei ging an Frankreich: Sängerin Barbara Pravi begeisterte mit „Voila“, einem sich steigernden Chanson ganz im Stile von Edith Piaf und Jacques Brel. Auch sie war im Spitzenfeld erwartet worden. Dritter wurde der Schweizer Gjon’s Tears. Seine emotionale Falsettballade „Tout l’Univers“ begeisterte vor allem die Fachjurys. Nach dem Rundruf in die Teilnehmerländer zur Verkündigung der Jurypunkte war er noch in Führung gelegen.

Schweiz: Gjon’s Tears „Tout l’univers“

Sieger der Herzen auf Platz vier

Platz vier ging an die Sieger der Herzen, Island: Die Isländer Dadi Freyr og Gagnamagnid waren klare Favoriten im Vorjahr, die Absage des Bewerbs kostete sie wohl den Sieg. Und heuer wurde ein Bandmitglied positiv auf das Coronavirus getestet. Die Band musste im Hotel zusehen, wie ein Probenvideo ihres Auftritts beim Bewerb eingespielt wurde. Mit dem Beitrag „10 Years“ beweisen sie, dass man beim Song Contest auch mit originellen Zugängen ganz ohne die klassischen Klischees oder Materialschlachten Fans und Jurys überzeugen kann. Ein Highlight des TV-Abends war dann auch die Schaltung zur Punktevergabe ins isländische Örtchen Husavik – in Anlehnung an die Komödie „Eurovision Song Contest: The Story of Fire Saga“.

Viel Zuspruch für harte Songs

Auch auf Platz fünf landete ein vollkommen untypischer Beitrag: Die ukrainische Band Go_a türmte traditionellen, sirenenartigen „weißen Gesang“, Flötenspiel und brachiale Technorhythmen zu einem polarisierenden Sound auf. Bei den Fachjurys reichte das nur für Platz zehn, mit den zweitmeisten Punkten des Publikums wurde es aber noch Platz fünf. Ähnlich laut waren die Sechstplatzierten, die finnische Nu-Metal-Band Blind Channel, die für ihren Song „Dark Side“ auch vor allem vom TV-Publikum belohnt wurden.

Auch die selbstironischen Litauer The Roop sammelten die Punkte für ihren achten Platz vor allem bei den Zuseherinnen und Zusehern ein. Umgekehrt erging es Destiny aus Malta: Die als Mitfavoritin gehandelte Sängerin lag nach der Jurywertung noch auf Platz drei, ihr an Netta, Siegerin 2018, erinnernder Auftritt mit der Elektroswingnummer „Je Me Casse“ wurde auch in der Halle von den 3.500 eingelassenen Fans bejubelt, auf das internationale Fernsehpublikum sprang der Funke aber nicht so recht über.

Blamage für Großbritannien und Deutschland

Ganz unten im Feld blieb der Brite James Newman ganz ohne Punkte, zumindest ein großer Applaus in der Halle und der eine oder andere Schluck vertrösteten ihn. Was sich Deutschland dabei gedacht hat, Sänger Jendrik mit dem Kinderlied „I Don’t Feel Hate“ und einer Tänzerin in einem Fingerkostüm nach Rotterdam zu schicken – man weiß es nicht. Vom Publikum gab es dafür keine Punkte, zwei der drei Jurypunkte kamen aus Österreich. Auch Spanien und den Niederlanden verwehrten die TV-Zuseherinnen- und Zuseher Punkte, mit sechs und elf von den Fachleuten blieb man auch abgeschlagen. Allesamt waren das aber keine Überraschungen.

Viel Glitzermini mit beschränkter Wirkung

Der im Vorfeld in ihrer Heimat sehr umstrittene Beitrag der russischen Kandidatin Manizha platzierte sich mit ihrer Botschaft für Frauenrechte auf Platz neun. Gerade noch in die Top Ten kam die griechische Kandidatin Stefania mit „Last Dance“ – der beste Platz aus der Riege der Glitzer-Dance-Pop-Kandidatinnen.

Glitzerkleider im Song Contest
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Ihre Genrekolleginnen landeten aber auch teils gar nicht so schlecht im Mittelfeld, obwohl durchaus verwechselbar – nicht zuletzt wegen ähnlicher Kostüme: Moldawien mit Natalia Gordienko und „Sugar“ (Platz 13), Serbien mit Hurricane und „Loco Loco“ (Platz 15), Zypern mit Elena Tsagrinou und „El Diablo“ (Platz 16). In dieselbe Kategorie fielen Israels Kandidatin Eden Alene mit „Set Me Free“ (Platz 17), Aserbaidschan mit Efendi und „Mata Hari“ (Platz 20) sowie Albanien mit Anxhela Peristeri und „Karma“ (Platz 21).

Publikum mit anderem Blick als die Jurys

Die Diskrepanz zwischen Jury- und Publikumswertung zeigte sich deutlich auch bei der bulgarischen Kandidatin Victoria (mit „Growing Up is Getting Old“, Platz elf), den Portugiesen The Black Mamba (mit „Love Is On My Side“, Platz zwölf) und der belgischen Band Hooverphonic (mit „The Wrong Place“, Platz 19). Die drei Nummern, die nicht ins klassische Song-Contest-Schema passen, wurden von den Jurys sehr gut bewertet, erhielten aber beim Televoting nur wenige Punkte. Dass Schweden mit Tusse und der radiotauglichen Popnummer „Voices“ auf dem 14. Platz landete und in beiden Votingteilen keine besondere Aufmerksamkeit erhielt, ist für die erfolgsverwöhnten Skandinavier fast schon eine Niederlage.

Ähnlich ging es Sänger Tix aus Norwegen, der für seine Engel-Dämonen-Inszenierung zu „Fallen Angel“ so gut wie keine Punkte von den Jurys bekam und nur wenig vom Publikum. Für San Marino war hingegen schon der Finaleinzug so etwas wie ein Sieg. Dass US-Rapper Flo Rida, den sich Sängerin Senhit für ihren Song „Adrenalina“ zur Unterstützung geholt hat, dann im Finale so gar nichts brachte, dürfte dann doch eine Enttäuschung gewesen sein.

Aufregung um Clip aus dem Green Room

Für einige Aufregung sorgte noch in der Nacht ein Kameraschwenk im Green Room während der Punktevergabe, bei der Maneskin-Sänger David seinen Kopf verdächtig Richtung Tischplatte bewegt. Bei dem in Sozialen Netzwerken dutzendfach verbreiteten Clip wollen Zuseher erkennen, wie er Kokain konsumiert. Andere wollen eher eine Jubelgeste sehen. Per Instagram dementierte die Band vehement: David habe ein heruntergefallenes und zerbrochenes Glas beiseite gewischt, heißt es. Auch ein „Beweisfoto“ wurde gepostet. Und man sei bereit, sich einem Drogentest zu unterziehen, um die Gerüchte auszuräumen.

Ein Vorgeschmack auf das Leben

Zu sehen war jedenfalls genau das spannende Finale, das angesichts eines recht breiten Felds an Favoriten erwartet werden konnte. Und auffällig war, dass gerade Beiträge, die sich eben nicht den klassischen Mustern des Song Contest beugen, erfolgreich waren. Ob es ein besonders guter „Jahrgang“ war, wird sich weisen – wenn man sieht, welche Songs auch nach dem Abend noch Erfolg haben. Ein wenig wehmütig lässt sich aber schon jetzt sagen, dass viele Kandidatinnen und Kandidaten im Vorjahr mit stärkeren Songs angetreten wären.

Dennoch hat der Bewerb heuer einen ganz besonderen Nerv getroffen: Er gab einen ersten Vorgeschmack auf die Zeit, in der nicht nur Kunst und Kultur wieder live zu genießen sind, sondern auch Menschen wieder gemeinsam feiern und tanzen können. Und das haben alle in Europa bitter nötig.