Umgeleitetes Flugzeug in Minsk
APA/AFP/Petras Malukas
Erzwungene Landung

„Dreiste Tat des Lukaschenko-Regimes“

Scharfe internationale Kritik hat die erzwungene Landung eines Linienflugzeugs in der weißrussischen Hauptstadt Minsk und die anschließende Festnahme eines Regierungskritikers ausgelöst. Die EU verlangt eine internationale Untersuchung, die USA bezeichneten den Vorfall als „dreiste und schockierende Tat des Lukaschenko-Regimes“.

Im Vorfeld des am Abend beginnenden EU-Gipfels verurteilte die EU am Montag die erzwungene Landung durch weißrussische Behörden scharf und stellte Sanktionen gegen die Verantwortlichen in Aussicht. Zudem forderte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell im Namen aller 27 EU-Staaten die sofortige Freilassung des Journalisten Roman Protassewitsch. Dessen Festnahme sei ein weiterer offenkundiger Versuch der weißrussischen Behörden, alle oppositionellen Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Der Aktivist Roman Protasevich 2017
Reuters
Der Regimekritiker wurde von Lukaschenko international gesucht

Die weißrussischen Behörden hätten zudem die Sicherheit der Passagiere und der Crew gefährdet, so Borrell. Der Vorfall müsse eine internationale Untersuchung zur Folge haben. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach zuvor von einer „Entführung“ der Maschine, die sanktioniert werden müsse. Die EU dürfe nun nicht zur Tagesordnung übergehen, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), das Vorgehen Weißrusslands sei „absolut inakzeptabel“.

USA und NATO für internationale Untersuchung

US-Außenminister Antony Blinken sprach auf Twitter von einer „dreisten und schockierenden Tat des Lukaschenko-Regimes“. Auch die USA forderten eine internationale Untersuchung, man stimme sich mit den Partnern über die nächsten Schritte ab. Die USA stünden an der Seite der Menschen in Weißrussland. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg forderte ebenfalls eine internationale Untersuchung. „Das ist ein schwerwiegender und gefährlicher Vorfall, der internationale Untersuchungen erfordert.“

Die EU hat bereits Sanktionen gegen Weißrussland im Zusammenhang mit der umstrittenen Wiederwahl von Alexander Lukaschenko und seinem harten Vorgehen gegen Regierungsgegner verhängt. Weitere Maßnahmen gegen hochrangige Vertreter aus Weißrussland waren zudem in Planung. Laut Angaben eines EU-Vertreters von Sonntagabend könnte nun zudem der weißrussischen Airline Belavia die Landung auf Flughäfen in der EU untersagt und jeglicher Transitverkehr von Weißrussland in die EU ausgesetzt werden. Zudem könnten Flüge von EU-Airlines über Weißrussland ausgesetzt werden.

Ryanair-Maschine und Feuerwehrautos auf dem Flughafen Minsk (Weißrussland)
APA/AFP
Der Ryanairflug wurde zur Notlandung gezwungen – und ein Regimegegner an Bord verhaftet

Flug umgeleitet, Regimekritiker verhaftet

Behörden der autoritär regierten Republik Weißrussland hatten am Sonntag ein Flugzeug auf dem Weg von Athen nach Vilnius in Litauen zur Landung gebracht, wie die Fluglinie Ryanair bestätigte. An Bord der Maschine war auch der von Lukaschenko international gesuchte Blogger Protassewitsch, ehemaliger Chefredakteur des führenden oppositionellen Telegramkanals „NEXTA“, der in Minsk festgenommen wurde.

Neben Protassewitsch wurde auch eine russische Passagierin festgenommen, bestätigte der außenpolitische Berater von Swetlana Tichonowskaja, Franak Wjatschorka, auf APA-Nachfrage. Die Festgenommene sei in Vilnius als freiwillige Aktivistin tätig, erklärte er.

Moskau stellt sich hinter Minsk

Weißrussland wies indes die Vorwürfe zurück, die Zwischenlandung erzwungen zu haben, um einen im Exil lebenden Oppositionsaktivisten festnehmen zu können. Die Behörden hätten völlig legal auf eine Bombendrohung reagiert, erklärte das Außenministerium am Montag. „Es besteht kein Zweifel, dass die Handlungen unserer zuständigen Stellen den internationalen Regeln entsprachen.“ Das Ministerium warf dem Westen vor, den Vorfall mit Hilfe „unbegründeter Anschuldigungen“ politisch zu instrumentalisieren.

Russland zeigte sich „schockiert“ über die Reaktion des Westens auf die Festnahme von Protassewitsch. „Es ist schockierend, dass der Westen den Vorgang im belarussischen Luftraum als ‚schockierend‘ einstuft“, schrieb die russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa am Montag auf Facebook. Auch westliche Staaten hätten in der Vergangenheit „Entführungen, erzwungene Landungen und illegale Festnahmen“ begangen.

Keine Angaben zu Protassewitschs Aufenthalt

Protassewitsch sei schnell klar gewesen, dass die Aktion ihm galt, berichtete am Montag ein Passagier dem griechischen TV-Sender Mega. „Er legte die Hände über den Kopf, als wüsste er, dass etwas Schlimmes passieren würde“, gab der Grieche Nikos Petalis per Videoschaltung aus Vilnius zu Protokoll. „Uns wurde nur gesagt, wir müssten in Minsk notlanden.“ Dann hätten die Passagiere ohne weitere Informationen eine Stunde im Flieger ausharren müssen. Er selbst habe gedacht, es handle sich womöglich um eine Art Notfallübung.

„Später haben wir im Wartebereich des Flughafens gesessen. Sie haben uns nicht einmal auf die Toilette gelassen. Protassewitsch saß neben mir, als ob nichts geschehen sei. Nach einer Weile kamen Polizisten und nahmen ihn fest.“ Die Passagiere hätten einen Horrorfilm erlebt.

Über den Verbleib Protassewitschs gibt es bisher keine offiziellen Angaben. Protassewitschs Vater Dmitri zeigte sich im Interview des belarussischen Radiosenders Radio Swoboda überzeugt, dass es sich um eine sorgfältige Operation, an der nicht nur Weißrussland beteiligt war. Russland ist enger Verbündeter von Weißrussland. Sein Sohn war auf der Rückreise von einem Griechenland-Urlaub in die litauische Hauptstadt Vilnius. Dmitri Protassewitsch sprach von einem „Terrorakt“ Lukaschenkos.

Kampfjet stieg auf

Wenige Minuten bevor die Boeing 737 der irischen Fluggesellschaft Ryanair kurz vor 13.00 Uhr Ortszeit den weißrussischen Luftraum wieder verlassen und über Litauen mit dem Landeanflug auf Vilnius begonnen hätte, hatte sie überraschend abgedreht. Es habe Informationen über eine Bombe an Bord gegeben und Präsident Lukaschenko habe deshalb den Befehl erteilt, den Flug umzuleiten, berichtete der regimenahe weißrussische Telegramkanal Pul Pervogo.

Zur Begleitung des Passagierflugzeugs sei auch ein Kampfjet vom Typ MiG-29 aufgestiegen, wie der Flughafen bestätigte. Die Fluglinie Ryanair bestätigte, dass die Besatzung des Fluges von weißrussischer Seite über eine mögliche Sicherheitsbedrohung an Bord in Kenntnis gesetzt und angewiesen worden sei, zum nächstgelegenen Flughafen in Minsk zu fliegen. Mit mehr als achtstündiger Verspätung landete die Maschine am Sonntagabend dann auf dem Flughafen von Vilnius.

Litauen leitete Untersuchung ein

Die litauische Staatsanwaltschaft leitete noch am Sonntag eine strafrechtliche Untersuchung der Vorgänge ein. Dabei gehe es unter anderem um die mögliche Entführung eines Flugzeugs zu terroristischen Zwecken und den Verstoß gegen internationale Verträge, teilten die Behörden mit.

Litauens Regierungschefin Ingrida Simonyte erklärte, mehrere Personen, die am Sonntagabend mit dem Flugzeug im litauischen Vilnius landeten, seien unmittelbar um eine Aussage gebeten worden. Laut Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis befanden sich 171 Passagiere an Bord, zu 149 davon habe man Informationen. Unter diesen seien überwiegend Litauer, aber auch ein Österreicher sowie mehrere Menschen aus anderen EU-Staaten.

Das Außenministerium in Wien bestätigte am Abend gegenüber der APA, dass sich auch ein österreichischer Staatsbürger auf der Passagierliste befunden habe. Das Außenministerium forderte auf Twitter „eine unabhängige internationale Untersuchung dieses Vorfalls“ und die dringende Freilassung Protassewitschs. „Spürbare Konsequenzen“ für den Machtapparat in Weißrussland forderte die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic. Eine Untersuchung der Rolle Russlands verlangten der NEOS-Außenpolitiksprecher Helmut Brandstätter und die NEOS-EU-Abgeordnete Claudia Gamon.

Auch Ryanair-Chef vermutet Absicht

„Es wirkt, dass es die Absicht der Behörden war, einen Journalisten und seine Reisebegleiterin (aus dem Flugzeug) zu entfernen“, sagte Michael O’Leary, der Chef der irischen Billigfluglinie Ryanair am Montag dem irischen Radiosender Newstalk. „Wir vermuten, dass auch einige KGB-Agenten auf dem Flughafen (in Minsk) abgeladen wurden.“ O’Leary sagte, es handle sich um einen „Fall von staatlich unterstützter Entführung, (…) staatlich unterstützter Piraterie“.

Der Ryanair-Chef lobte die Besatzung für ihren „phänomenalen Job“. Der Vorfall sei „sehr beängstigend“ gewesen, für Personal und Passagiere, die stundenlang von Bewaffneten festgehalten worden seien. Der irische Außenminister Simon Coveney forderte die EU zu einer „sehr deutlichen Antwort“ auf. Die Führung von Weißrussland besitze keine demokratische Legitimität und verhalte sich wie eine Diktatur, sagte Coveney dem Sender RTE.

Erinnerung an MH17?

Ein führender britischer Außenpolitiker verglich indes das Vorgehen der weißrussischen Behörden mit dem Abschuss des Passagierflugzeugs MH17. „Dies sind keine leeren Drohungen. Dies sind sehr reale Drohungen von einer Regierung, deren Verbündete und Freunde erst vor wenigen Jahren genau dasselbe getan haben“, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im britischen Parlament, Tom Tugendhat, am Montag zu Times Radio.

Er verwies damit auf Berichte über angebliche Drohungen der weißrussischen Behörden, die Ryanair-Maschine abzuschießen, falls die Piloten die Landung verweigerten. Tugendhat forderte, Überflüge über Weißrussland zu verbieten. Sie bedeuteten „eine direkte Gefahr für jedes zivile Flugzeug“, sagte der Politiker der Konservativen Partei.

„Geheimdienstoperation zur Flugzeugentführung“

Die weißrussische Exilopposition übte heftige Kritik. „Es ist absolut offensichtlich, dass dies eine Geheimdienstoperation zur Flugzeugentführung war, um den Aktivisten und Blogger Roman Protassewitsch zu verhaften“, kritisierte die im Exil lebende weißrussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja. Ab dem heutigen Tag sei klar, dass sich niemand, der über Weißrussland fliegt, in Sicherheit wiegen könne, sagte sie.

Oppositionspolitiker Pawel Latuschko ergänzte, dass dem Blogger in seiner Heimat die Todesstrafe drohe. Er forderte eine sofortige internationale Aufklärung des Zwischenfalls und eine Untersuchung, ob der internationale zivile Flugverkehr über Belarus einstweilen eingestellt werden soll. Latuschko sagte, dass neben Protassewitsch mehrere Passagiere nicht die Weiterreise angetreten hätten, darunter auch ein Bürger aus Belarus und vier Russen.