Sedat Peker
Screenshot youtube.com
Rache per Video

Erdogan nimmt Fehde mit Mafia-Boss auf

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sich nach schweren Anschuldigungen eines flüchtigen Mafia-Bosses hinter seinen Innenminister gestellt. Seit Wochen veröffentlicht der gesuchte Sedat Peker YouTube-Videos, in denen er Innenminister Süleyman Soylu unter anderem Verbindungen zur organisierten Kriminalität unterstellt. Auch gegen andere Politiker erhebt er schwere Vorwürfe. Für Erdogan selbst ist es die nächste Belastungsprobe.

„In seinem Kampf gegen Terrororganisationen und kriminelle Organisationen waren wir auf der Seite unseres Innenministers, wir sind auch jetzt auf seiner Seite und werden auch in Zukunft an seiner Seite sein“, sagte Erdogan am Mittwoch bei einer Rede vor der Fraktion seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP. Lange hatte Erdogan zu der Affäre geschwiegen, nun nimmt er die Fehde mit Peker offenbar auf.

Peker unterstellt in seinen Videos Politikern und ihren Verwandten Verbindungen zum organisierten Verbrechen. Es geht etwa um angeblichen Drogenhandel und ungeklärte Morde. Sieben „Folgen“ hat er bereits veröffentlicht – und sie wurden in der Türkei millionenfach angeklickt. Der Mafioso ist wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung vorbestraft. Er wird in Dubai vermutet.

Bisher Erdogan unterstützt

Dabei war Peker in der Vergangenheit als martialischer Unterstützer Erdogans aufgetreten. Im Jahr 2016 drohte er etwa regierungskritischen Akademikern, er werde in ihrem Blut baden. Erdogan selbst attackierte Peker in seinen Videos bisher nicht, er nannte ihn sogar „Tayyip abi“ – seinen „Bruder“.

Seine Hauptangriffe richtet Peker gegen Innenminister Soylu und gegen Mehmet Agar, der in den 90er Jahren zuerst Polizeichef und dann Innenminister war und der Regierung nahesteht. Besonders explosive Anschuldigungen erhob Peker in seinem siebenten Video vom Sonntag.

Türkischer Innenminister Süleyman Soylu
Reuters/Ahmet Bolat
Innenminister Soylu ist das Hauptziel der Angriffe

Er unterstellte Agar, in die bis heute ungeklärten Morde an dem türkischen Journalisten Ugur Mumcu und dem türkisch-zypriotischen Autor Kutlu Adali in den 90er Jahren verwickelt zu sein. Mit dem Mord an Adali sei zuerst sein Bruder beauftragt worden, sagte Peker. Das Attentat scheiterte, wenig später wurde Adali mit einem Maschinengewehr erschossen. Dem Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten und Erdogan-Vertrauten Binali Yildirim wirft er Verwicklungen in den internationalen Drogenschmuggel vor – der Ex-Premier wies das umgehend entschieden zurück. Was von allen Anschuldigungen tatsächlich stimmt, ist unklar.

Verbindungen von Politik und Unterwelt?

Die Vorwürfe Pekers wecken in der türkischen Bevölkerung Erinnerungen an den Susurluk-Skandal und den „tiefen Staat“: Infolge eines Verkehrsunfalls waren 1996 Verbindungen zwischen dem rechtsextremen Untergrund und dem Staatsapparat bekanntgeworden. Bei dem Unfall in der Nähe der Stadt Susurluk waren ein hoher Polizeibeamter und ein unter Mordverdacht stehender türkischer Rechtsextremer ums Leben gekommen. Agar trat damals wegen mutmaßlicher Verwicklung in den Skandal vom Amt des Innenministers zurück.

Der Mafia-Boss suggeriert nun mit seinen Aussagen, dass die Verbindungen von Unterwelt und Politik nach wie vor existieren. Innenminister Soylu war – wie Peker detailliert beschreibt – eigentlich ein Verbündeter: Er habe ihn lange geschützt und auch vor Ermittlungen gewarnt, erzählt der Mafia-Pate. Nicht zuletzt habe er sich auf Soylus Tipp hin ins Ausland abgesetzt. Im vergangenen Jahr habe er zudem eine Twitter-Kampagne unterstützt, die Soylu mit Fake-Accounts initiiert habe, um sich im Amt zu halten. Damals hatte Soylu wegen Chaos um eine Coronavirus-Ausgangssperre zwar seinen Rücktritt verkündet, nach Protesten auf Twitter lehnte Erdogan das Gesuch aber ab – und Soylu blieb im Amt.

Rache als Motiv?

Dass er sich nun auf Soylu so einschießt, könnte ein Racheakt sein: Denn nachdem Paker das Land verlassen hatte, ließ der Innenminister mehrere Männer von Pekers Organisation verhaften und seine Villa in Istanbul durchsuchen, während Frau und Kinder im Haus waren. Seine Familie ist mittlerweile ebenfalls nicht mehr in der Türkei, und damit begann Peker mit seiner Videoserie.

Soylu wies Pekers Vorwürfe allesamt zurück – und nannte ihn einen „Mafia-Dreckskerl“. Er denke nicht an Rücktritt, sagte er am Sonntag, überzeugende Antworten blieb er aber schuldig. Dafür sorgte er mit einem wenig geglückten Vergleich für massive Irritation bei seinen Zuschauern. Auf den Hinweis eines Interviewers, dass Pekers Videos immerhin von Millionen Türken verfolgt würden, entgegnete Soylu: „Millionen Menschen schauen sich auch Kinderpornografie an.“

Wie nervös die Regierung ist, zeigte sich auch vergangenen Woche: Ein Reporter der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu fragte bei einer Pressekonferenz, wie die Regierung auf die Vorwürfe Pekers reagieren werde. Er wurde umgehend fristlos entlassen -wegen „Verstoßes gegen journalistische Grundsätze und Verbreitung politischer Propaganda“.

Erdogan in Bedrängnis – oder nicht?

Die Peker-Videos kommen für Erdogan zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt. Seine Umfragewerte sind angesichts hoher Arbeitslosigkeit und Rekordinflation ohnehin im Keller. Schon länger hat seine islamisch-konservative Regierungspartei AKP ohne die Unterstützung der ultranationalistischen MHP keine Mehrheit im Parlament. Soylu wiederum ist bei deren Wählern beliebt und genießt die Unterstützung von MHP-Chef Devlet Bahceli, der sich am Dienstag demonstrativ hinter ihn stellte.

Möglicherweise könnte Erdogan aber auch versuchen, aus der Affäre Kapital zu schlagen: Denn überraschenderweise wurden Pekers Videos bisher nicht gesperrt, obwohl die Regierung bei regierungskritischen Äußerungen wenig zimperlich vorgeht. Einige Beobachter sind daher der Ansicht, dass es dem Staatschef vielleicht gar nicht so unrecht ist, dass Soylu demontiert wird. Immerhin wurde der Minister schon als Erdogans Nachfolger gehandelt. Und auch dass die Regierungspartei zwischen Anhängern Soylus und dem Lager von Erdogans Sohn – dem ehemaligen Finanzminister – gespalten ist, ist inzwischen ein offenes Geheimnis.