Küssendes Paar
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Liebe und Sex

Sommer der großen Gefühle

Nach einem Jahr Abstinenz soll nun die Zeit kommen, wo dem Hedonismus gefrönt und der Eskapismus gelebt wird. Ein Sommer voll Liebe und Sex, in dem alles nachgeholt wird, was so lange nicht möglich war. Große Gefühle könnten diesen Sommer zwar tatsächlich zurückkehren, ganz so ungezügelt dürfte es dann aber doch nicht werden, prognostizieren Experten und Expertinnen. Zumindest nicht für alle.

Mit dem Impffortschritt kommt allmählich auch die Normalität zurück. Die Psychologin Beate Wimmer-Puchinger konstatiert im Gespräch mit ORF.at eine gewisse Aufbruchsstimmung, weil es endlich wieder erlaubt sei, aufeinander zuzugehen: „Jetzt kann man sich wieder treffen, flirten und ja hoffentlich auch wieder unbeschwerter miteinander Sex haben.“

In der „großen Gefühlswelt“ sei das eine Erlösung, sagt die Präsidentin des Berufsverbands Österreichischer Psychologinnen und Psychologen (BÖP). „Es ist so, als würde man ein Fenster aufmachen und die Sonne hereinlassen.“ Recht unverblümt bringt es indes die BBC auf den Punkt: „Nach der langen Zeit der sozialen Isolation werden die Menschen in den kommenden Monaten die Maske wohl gegen eine andere Art der Verhütung tauschen. Willkommen im Sommer 2021: dem Sommer des Sex.“

Instagram-Posting von suitsupply
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„Die neue Normalität ist auf dem Weg. Mach dich bereit näherzukommen“, wirbt etwa eine Herrenmodemarke

„Die neue Normalität kommt“

Das spiegle sich etwa auch in der aktuellen, „postpandemischen“ Werbung wider. In einem Werbeclip von Diesel wurden bereits im Februar alle Regeln des guten Abstandhaltens übertreten. Werbesujets zeigen leicht bekleidete Menschen, eng aneinandergeschmiegt, sichtlich speichelintensiv küssend, dazu Slogans wie „Die neue Normalität kommt“. Mittlerweile werben sogar hierzulande einst so biedere Banken mit „Schmusen“.

„Sex sells – wieder“, kommentiert das Wirtschaftsmagazin „Business Insider“ die aktuellen Entwicklungen. Das dürfte nicht nur Kaugummi-, sondern auch Kondomhersteller freuen. Bei Durex beispielsweise nahmen Kondomverkäufe nach Aussage des Unternehmens im April weltweit im „zweistelligen Bereich zu“. Und glaubt man der Werbung, dürften auch auf Wrigleys goldene Zeiten zukommen.

„Memento amoris“

Sexualpsychologen gehen davon aus, dass Gelegenheitssex in Zukunft wohl zunehmen könnte. „Einer der Hauptgründe dafür mag überraschen: Es ist unser kollektives Trauma“, schreibt BBC. Wer mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert werde, sei offener für risikoreiches Verhalten, so die Erklärung. Von „memento mori“ („Bedenke, dass du sterben wirst“) scheint der Weg zu „amoris“ also nicht weit zu sein.

Auch Wimmer-Puchinger ortet einen „Befreiungsschlag“ für Singles – zumindest für all jene, die sich derzeit aktiv auf der Suche befinden. Denn während in anderen Ländern zumindest „Knuffelkontakte“ erlaubt wurden, waren hierzulande (Tinder-)Dates als „Bezugsperson“ explizit verboten – selbst für Spaziergänge im Freien.

Äteres Paar
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Die Liebe ist wieder legal – nach dem harten Lockdown sind nun auch wieder „Knuffelkontakte“ erlaubt

Angst vor Nähe

Allerdings warnt die Psychologin vor Verallgemeinerungen, schließlich müssten „gerade bei Sexualität und Beziehungen“ Dinge sehr differenziert betrachtet werden. Und: Nach wie vor gebe es viele Ängste. Lange Zeit seien Menschen gelehrt worden, vorsichtig zu sein, Abstand zu halten, Masken zu tragen und andere Personen als potenzielle Gefahrenquelle wahrzunehmen. Nun, wo diese Barriere langsam schwinde, brauche es noch Zeit, um sich wieder an die neue Situation zu gewöhnen und die wortwörtliche „Angst vor Nähe“ zu überwinden.

Die Gefühlswelt werde erst langsam hochgefahren, „da kann man vielleicht nicht sofort in den fünften Gang schalten, sondern beginnt zuerst im zweiten“, sagt Wimmer-Puchinger. So bleibe hierzulande etwa fraglich, ob und wann das „Bussi links, Bussi rechts“ zur Begrüßung wieder eingesetzt werde.

„FODA“ statt „FOMO“

Auch die BBC schreibt von der „Re-entry Anxiety“, also der Angst, nach so langer Zeit in Quarantäne wieder in das gesellschaftliche Leben zurückzukehren. Dazu zähle eben auch jede Form von sozialer Interaktion. Wer sich sozial „eingerostet“ fühle, könne es als unangenehm empfinden, mit anderen Personen im gleichen Raum zu sein – geschweige denn im gleichen Bett.

Die physische Distanz dürfte sich also recht drastisch auf das Dating-Verhalten ausgewirkt haben. So heißt es in einem Beitrag von „The Conversation“, dadurch dass sich in den vergangenen Monaten vieles in die virtuelle Welt verlagerte, habe sich Dating „verlangsamt“. War früher „FOMO“ („Fear of missing out“ – die „Angst, etwas zu verpassen“) präsent, sei nun „FODA“ („Fear of dating again“, die Angst zu daten) vorherrschend.

Küssendes homosexuelles Paar
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Von Dating-Apps, Videocalls und virtuellen Nachrichten geht es nun wieder raus in die echte Welt – nicht zur Freude aller

„Tanz auf dem Vulkan“

In Anbetracht dessen, dass die Pandemie aber ohnehin noch nicht ganz vorbei ist, rät Wimmer-Puchinger sogar zu einer „kleinen Sicherheitsbremse“. Viele wissenschaftliche Fragen seien noch nicht abschließend geklärt, nach wie vor gebe es auch Trauer und Trauma in der Gesellschaft – bei dem kommenden Sommer könne es sich auch nur um eine Zwischenperiode handeln, um einen „Tanz auf dem Vulkan“. Man schüttelt nun alle Krisen ab, „weil wer weiß, was dann noch kommt“, so die Psychologin.

Historische Vergleiche nicht haltbar

Auch der Vergleich zwischen dem Sommer 2021 und dem originalen „Summer of Love“ im Jahr 1967 beziehungsweise auch den „Goldenen Zwanzigern“ ist laut Fachleuten nicht zulässig. Zwar gebe es die Vorstellung, dass die Menschen nach der Spanischen Grippe und in der Zwischenkriegszeit ihr Leben und die Liebe hätten hochleben lassen, die Realität dürfte jedoch weitaus trister ausgesehen haben.

„Die meisten Menschen führten kein Leben im Stil des ‚Great Gatsby‘ in ausschweifender Dekadenz. Sie hatten andere Dinge im Kopf als zu feiern. Für die Mehrheit der Bevölkerung war es eine Zeit der Armut und der Not“, zitiert die BBC den britischen Sozialpsychologen Viren Swami. Und: Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts habe Sex ohnehin als großes Tabu gegolten – dementsprechend gebe es auch keine Studien, die diese Vorstellung der „Goldenen Zwanziger“ wissenschaftlich belegen könnten.

Auch der Vergleich zum „Summer of Love“, als 1967 Hippies mit Blumenkränzen im Haar die freie Liebe feierten und die sexuelle Revolution ausriefen, halte nicht stand, zeigen sich Experten und Expertinnen etwa gegenüber dem „Guardian“ überzeugt. Damals sei eine Atmosphäre der Unschuld und Prüderie vorherrschend gewesen, die es zu durchbrechen galt. Heutzutage sei Promiskuität ein „alter Hut“. Erst recht in Zeiten von Onlinedating. Das Jahr der Isolation hätte die Menschen zwar möglicherweise „horny“ (auf Deutsch etwa „geil“) gemacht, mit der 60er-Jahre-Hippie-Revolution habe das jedoch nicht viel zu tun, so der „Guardian“.

Sich umarmendes Paar
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„Wenn das der Sommer der großen Gefühle wird, wäre das eine schöne Epoche“, sagt die Psychologin Wimmer-Puchinger

Expertin: Sommer der großen Gefühle für alle

Außer Frage steht am Ende aber, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und prinzipiell nach zwischenmenschlichen Beziehungen strebt. Dementsprechend würden viele nach einem oft einsamen Jahr bei ihrem Wiedereintritt in die Gesellschaft „jede Art von Bindung“ suchen – nicht nur sexuelle, so die BBC. Letztlich sei aber auch das individuell: Während die einen also möglicherweise ihre neu gefundene Wertschätzung für tiefergehende zwischenmenschliche Beziehungen ausleben, werden sich andere wohl sehr wohl in einem „Summer of Sex“ wiederfinden, so die BBC.

In einem „Wired“-Beitrag heißt dazu: „Einige von uns werden herausspringen und aussehen wie John Travolta, der in Saturday Night Fever die Tanzfläche betritt; andere wieder eher wie Austin Powers, stotternd und stolpernd, desorientiert sein und erst langsam auftauen. Wichtig ist, dass wir alle unseren eigenen Weg akzeptieren und immer weitermachen.“

Für Wimmer-Puchinger ist klar, dass in diesem Sommer aber wohl alle, wenn auch auf ihre ganz eigene Art, „große Gefühle“ erleben werden. Sie meint: „Wenn das also der Sommer der großen Gefühle wird, wäre das eine schöne Epoche.“