Mehrere unscharf fotografierte Menschen gehen während eines Sonnenuntergangs auf einer Straße
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Er, sie – und dann?

Im Deutschen tut sich eine Lücke auf

Er, sie – und jetzt? Das Pronomen rückt zunehmend ins Rampenlicht. Nicht nur in sozialen Netzwerken fordern mehr und mehr Menschen das Fürwort ihrer Wahl ein. Im Deutschen wird damit aber anders als in anderen Sprachen eine Lücke deutlich: Wie soll über Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau verstehen, jenseits des Gendersternchens gesprochen werden? ORF.at hat bei Fachleuten nachgefragt.

„Ich bin stolz, euch wissen zu lassen, dass ich mich als non binär identifiziere und nun offiziell meine Pronomen zu ‚they/them‘ ändere“, teilte US-Popstar Demi Lovato vor wenigen Wochen mit – das heißt, Lovato sieht sich weder als Frau noch als Mann, das Fürwort „they“ soll das signalisieren. Lovato artikulierte damit einen Wunsch, der in nicht binären Kreisen aber auch in den jüngeren Generationen beinahe selbstverständlich scheint.

Auch Instagram erkannte das Bedürfnis seiner Community und führte Mitte Mai vorerst in einer Handvoll Ländern eine eigene Spalte für Pronomen ein, auf Twitter und in Dating-Apps ist die Nennung des Fürworts im Profil ebenso üblich. In englischsprachigen Medien wie auch im deutschsprachigen Raum befeuert das Diskussionen zu geschlechtergerechter Sprache.

VfGH: Diverse Menschen „schützen“ – nur wie?

Ein vergleichbares Pendant zum Singularpronomen „they“, das im Englischen bereits im 14. Jahrhundert benutzt, aber zwischenzeitlich von anderen Formen verdrängt wurde, gibt es im Deutschen aber (noch) nicht. Dabei stellte der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) 2018 fest, dass Menschen, deren Geschlecht nicht eindeutig männlich oder weiblich ist, ein Recht auf eine entsprechende Eintragung wie „divers“, „inter“ oder „offen“ im Personenstandsregister (ZRP) und in Urkunden haben.

Der VfGH verwies bei der Entscheidung im Einklang mit Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention darauf, dass die menschliche Persönlichkeit in ihrer Identität, Individualität und Integrität zu schützen ist. Damit müssten Menschen aber nur jene Geschlechtszuschreibung durch staatliche Regelungen akzeptieren, die ihrer Identität entspricht. Einen ähnlichen Beschluss gab es 2017 auch in Deutschland.

Formular mit Kreuz bei „inter/divers/offen“
ORF.at/Christian Öser
2018 hatte der VfGH das Recht auf Eintragung jenes Geschlechts, das der persönlichen Identität entspricht, und damit auch das Recht auf Bezeichnungen wie „divers“, „inter“ oder „offen“ anerkannt

„Sprache muss diskriminierungsfrei sein“

Die Universität Wien reagierte mit einem Leitfaden zu geschlechtergerechter Sprache, auch das Bildungsministerium nahm sich dieser an. Im Leitfaden des Ministeriums aus dem Jahr 2018 wird bei der Thematik auf ein Zitat aus Herta Müllers Roman „Der König verneigt sich und tötet“ verwiesen: „Sprache ist nirgends und zu keiner Zeit ein unpolitisches Gehege, denn sie lässt sich von dem, was Einer mit dem Anderen tut, nicht trennen. Sie lebt immer im Einzelfall, man muß ihr jedes Mal aufs Neue ablauschen, was sie im Sinn hat.“

Doch ist eine gendergerechte Ausdrucksweise, die tief in die Grammatik der deutschen Sprache eingreift, machbar? „Sprache muss diskriminierungsfrei sein“, hält Lann Hornscheidt gegenüber ORF.at fest. Hornscheidt veröffentlichte jüngst gemeinsam mit Ja’n Sammla das Buch „Wie schreibe ich divers? Wie spreche ich gendergerecht?“ und sorgte 2016 mit der Entscheidung, sich als „Professx“ für Gender Studies an der Humboldt-Universtät in Berlin zu bezeichnen, für Aufsehen.

Von „Mensch“ zu „ens“

„Wenn wir genderbezogene Diskriminierung überwinden wollen, dann müssen wir auch Sprachmöglichkeiten schaffen, die nicht die ganze Zeit Gender aufrufen.“ Hornscheidt versteht sich selbst als genderfrei und fordert in puncto geschlechtergerechter Sprache drei Strategien – „also entweder genderinklusiv zu reden, mit Sternchen und Doppelpunkt“. Beispiel: „Leser:in“ oder „Leser*in“. Asterisk und Doppelpunkt signalisieren, dass es nicht nur männlich und weiblich gibt.

Eine weitere Möglichkeit sei, genderfrei zu sprechen – etwa statt „Leser“ „eine Person, die liest“, zu sagen oder den Namen der Person zu nennen. Abhilfe könnten eben auch neue Pronomen schaffen, wenngleich Hornscheidt von dem einen universellen Pronomen für diverse Menschen abrät. Hornscheidt selbst kreierte etwa das genderfreie Pronomen „ens“, also der Mittelteil aus dem Wort „Mensch“. „Ens“ tauge als Pronomen, aber auch als Wortendung. Ein Beispiel: Aus dem Satz „Jeder Leser muss sein Abo vor Monatsende bezahlt haben“ würde demzufolge „Jedens Lesens muss ens Abo vor Monatsende bezahlt haben.“

„Die dritte Strategie wäre für mich, die Diskriminierungsform zu benennen, also Genderismus“, so Hornscheidt. Ein Beispiel wäre Hornscheidt zufolge „sexistische Sitze“ statt „Frauensitze“ zu sagen. Welche Strategie wann zur Anwendung kommt, sei Abwägungssache.

Duden: Neutrale Formulierungen nehmen zu

Hornscheidt bleibt mit dem Wunsch nach geschlechtergerechter Sprache jedenfalls nicht alleine: Auch die „Duden“-Redaktion, die laufend Sprachentwicklungen anhand großer Datenmengen beobachtet, stellt fest, dass im Deutschen „vermehrt neutral formuliert wird“, so Laura Neuhaus, Mitglied der „Duden“-Redaktion, zu ORF.at – etwa durch Verwendung von Begriffen wie Person oder Mensch, durch Verwendung von Partizipformen a la Studierende oder auch durch Umformulierungen wie „unter der Leitung von“ statt Leiterin oder Leiter.

Genderneutrale Pronomen

„They“: Im Englischen hat sich das Singularpronomen „they“, das bereits im 14. Jahrhundert in Gebrauch war, durchgesetzt.
„Hen“: 2015 stieß in Schweden „hen“ offiziell zu den Fürwörtern „hon“ (sie) und „han“ (er) dazu.
„Hän“: In Finnland gibt es mit „hän“ seit jeher nur ein Personalpronomen.
„Ens“, „sier“, „x“: Im Deutschen gibt es eine Fülle an genderneutralen Pronomen, einen Favoriten gibt es nicht.

Anders als im Englischen und im Schwedischen gibt es im Deutschen in Sachen Pronomen „noch keinen heißen Kandidaten“, sagt Neuhaus zudem. Die aktuelle Situation würde sich vor allem durch eine Vielzahl an genderneutralen Pronomen wie „ens“, „em“, „et“, „sier“ oder „xier“ auszeichnen. Vom bereits existenten Pronomen „es“ raten Neuhaus und Hornscheidt ab.

Vorreiter Schweden?

Stichwort Schweden: In dem skandinavischen Land wurde das sprachliche Dilemma vor ein paar Jahren gelöst. Und zwar wurde 2015 zusätzlich zu den persönlichen Fürwörtern „hon“ (sie) und „han“ (er) das genderneutrale „hen“ in die Wörterliste der Schwedischen Akademie aufgenommen. Man habe durchaus Zweifel gehabt, sagte damals der Hauptverantwortliche in der Akademie, aber festgestellt, dass sich das Wort im Schwedischen etabliert habe. Inspiration holte sich Schweden bereits vor Jahrzehnten von seinem Nachbarland: In Finnland gibt es seit jeher nur ein Personalpronomen, das geschlechtsneutrale „hän“.

Dass die Aufnahme des Pronomens möglich ist, dürfte auch mit der schwedischen Grammatik zusammenhängen. Denn diese kennt grundsätzlich kein „männlich“ und „weiblich“ für Substantive. Dinge sind entweder sächlich, also „neutrum“ – oder nicht, was grammatikalisch als „utrum“ (gemeinsames Geschlecht, genus commune) bezeichnet wird.

Generisches Maskulinum als Dilemma

Anders im Deutschen, das stark vom Genussystem geprägt ist – mit Genus ist das grammatische Geschlecht gemeint. Mit diesem muss die Wortform anderer Wörter übereinstimmen, die sich auf das Substantiv beziehen, etwa Artikel, Adjektive und Pronomen. Viele Fachleute aus der Sprachwissenschaft sind bemüht, stets darauf zu verweisen, dass Genus und Gender nicht miteinander gleichzusetzen sind. Gerade das generische Maskulinum steht dabei im Fokus. Konkret geht es um Personenbezeichnungen wie „Leser“ oder „Schüler“ – sie sind grammatisch männlich, können aber Menschen mit jedem biologischen Geschlecht bezeichnen.

Studien zeigen allerdings, dass bei der Verwendung des generischen Maskulinums bei Personen eben doch an männliche Personen gedacht wird. Als das „Duden“-Onlinewörterbuch Anfang des Jahres das generische Maskulinum in seinen Einträgen schwächte und seither zum Beispiel einen Mieter dezidiert als eine „männliche Person, die etwas gemietet hat“, benennt und dem weiblichen Pendant einen eigenen Definitionstext widmet, löste das Debatten aus – wie so oft, wenn es um Genderthemen geht. Für diverse Menschen fehlt so eine Kategorie im „Duden“ noch. Geschlechtsneutrale Pronomen sind jedenfalls noch eine „Leerstelle“, so Neuhaus.

„Lücke im System“

Auch Henning Lobin vom Leibniz-Institut für Deutsche Sprache nennt fehlende Worte für diverse Menschen gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ als „Lücke im System, die jetzt erst sichtbar wird“. Doch die entscheidende Instanz in Sachen Sprache gibt es nicht – „die Sprachgemeinschaft entscheidet“, so Neuhaus. „Mit Ausnahme der Rechtschreibung ist kein einziger Bereich der deutschen Sprache amtlich normiert“, sagt Sabine Krome, Leitung der Geschäftsstelle des Rats für deutsche Rechtschreibung, zu ORF.at zudem.

Der Rat sprach sich zuletzt Ende März für geschlechtergerechte Sprache und Schreibung aus – Gendersternchen oder Unterstrich, die diverse Genderidentitäten signalisieren sollen, wurden etwa aufgrund der Lesbarkeit, Nachvollziehbarkeit, Verständlichkeit oder Lernbarkeit dennoch nicht empfohlen. Immerhin muss das, was der Rat beschließt, an Behörden und Schulen im gesamten deutschsprachigen Raum umgesetzt werden.

„Sprachliche Änderungen nicht aufoktroyieren“

Krome gibt auch zu bedenken, dass Texte durch Asterisk, Unterstrich oder ein neues Pronomen „für Menschen, die mit der Sprache und Rechtschreibung noch nicht so vertraut sind“ noch „unlesbarer“ werden. Bestimmte Gruppen von Lesenden und Schreibenden würden dadurch ausgeschlossen werden. „Es gibt so viele andere Probleme, als dass jetzt über die Einführung eines neuen Pronomens nachgedacht wird. Auch ist die Einführung neuer Wörter nicht der Auftrag des Rechtschreibrats.“ Für Eingriffe dieser Art brauche es ohnehin eine „Mehrheit der Bevölkerung, die auch dafür ist“, sagt Krome mit Verweis auf den Widerstand gegen die Rechtschreibreform 1996. „Man kann sprachliche Änderungen nicht einfach aufoktroyieren.“

Auch eine aktuelle Akonsult-Studie im Auftrag der „Kronen Zeitung“ zeigt, dass 66 Prozent der Befragten in Österreich geschlechtergerechte Sprache ablehnen. 20 Prozent verwenden diese hingegen selbst. Bei Reden oder Stellenanzeigen habe sich geschlechtersensible Sprache aber weitgehend durchgesetzt, so Krome weiter. Dass das „Patriarchalische, das wir seit Jahrhunderten haben“, durch die Genderdebatte aufgebrochen würde, sieht Krome positiv.

Eine Frage des Respekts?

Bei all dem gehe es letzten Endes um eine „Haltung zu Respekt im Sprechen“, so Hornscheidt. Eine Person, die ihrem Gegenüber nach Hornscheidts Verständnis respektvoll begegnen möchte, könnte etwa bei der persönlichen Vorstellung wie auch in Profilen auf Twitter und Co. sowie in E-Mails das bevorzugte Pronomen nennen. Um sich an neue Pronomen zu gewöhnen, könne es auch helfen, sich Texte umzuschreiben und laut vorzulesen.

Geschlechtergerechter Sprachgebrauch sei jedenfalls ein Thema, das „im Vergleich zu anderen einem wahnsinnig schnellen Wandel unterlegen ist“, konstatiert Neuhaus. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Krome: Einschneidende gesellschaftliche Entwicklungen und der damit einhergehende Sprachwandel brauchen Zeit und „wahrscheinlich auch einen Generationenwechsel“.