Die „Ever Given“ im Suezkanal
Reuters/Mohamed Abd El Ghany
Beispiel „Ever Given“

Schiffscrews als Gefangene an Bord

Fast eine Woche hat die „Ever Given“ im März den Sueskanal blockiert und einen riesigen Schiffsstau produziert. Nach der „Befreiung“ wurde es still um das Containerschiff. Doch wer meint, der Frachter samt Crew sei schon längst wieder auf den Meeren unterwegs, irrt. Ägypten hat beide festgesetzt – ein Beispiel von vielen dafür, wie Seeleute in Geiselhaft geraten.

Das Containerschiff war am 23. März auf dem Weg nach Rotterdam im Sueskanal auf Grund gelaufen, hatte sich zur Seite gedreht und blockierte tagelang die für den internationalen Schiffsverkehr enorm wichtige Passage zwischen Rotem Meer und Mittelmeer. Nach einer aufwendigen Bergungsaktion mit Baggern und Schiffen war erst am 29. März der Weg wieder frei. Ägypten und der Schiffsbetreiber streiten seither über die Verantwortung, Kairo will Schadenersatz.

Zuletzt erinnerte „Foreign Policy“ an das Schicksal der Seeleute an Bord und nannte dieses „nicht ungewöhnlich“. Überall auf der Welt passiere es immer und immer wieder, dass Crews im Streit zwischen Reedereien und Regierungen zu Geiseln werden und mitunter jahrelang auf ihren Schiffen festsitzen. Die Seeleute seien „stille Geiseln“ der zunehmenden Abhängigkeit der Weltwirtschaft von der Schifffahrt.

Die „Ever Given“ im Suezkanal
APA/AFP/Maxar
Quergestellt im Sueskanal: Hundert Schiffe steckten in riesigem Stau

Betreiber und Eigentümer sind – wie sehr oft bei solchen Schiffen – unterschiedliche Unternehmen. Der Frachter gehört einem japanischen Leasingunternehmen, betrieben wird es von einer taiwanesischen Reederei unter panamaischer Flagge und gemanagt von einem Hamburger Unternehmen.

Wer war schuld an der Panne im Sueskanal?

Damit der Frachter wieder freikommt, muss die Schuldfrage für die Panne geklärt sein. Ägypten verlangte anfangs umgerechnet knapp 740 Mio. Euro Schadenersatz, später wurde die Forderung auf rund 450 Mio. Euro reduziert. Die Suez Canal Authority (SCA) wirft dem Kapitän vor, Fehler gemacht zu haben, die Eigentümer der „Ever Given“ und ihre Versicherung UK Club argumentierten, die Kanalbehörde hätte das Schiff wegen eines starken Sandsturms gar nicht einfahren lassen dürfen.

Die „Ever Given“ in der Bittersee
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Die „Ever Given“ liegt aktuell in einem Salzwasserseebecken, den Bitterseen, nahe dem Sueskanal

Zum Unglückszeitpunkt war das fast 400 Meter lange Containerschiff im Konvoi mit anderen unterwegs. Nachdem es sich quergestellt hatte, stauten sich vor der Kanaleinfahrt nach unterschiedlichen Angaben bis zu 450 Schiffe. Die Versicherung will zahlen, aber nur eine angemessene Summe, wie es zuletzt hieß. Der Fall liegt bei einem Gericht im ägyptischen Ismailia.

Schiffe warten vor dem Suezkanal
Reuters/Mohamed Abd El Ghany
Hunderte Schiffe mussten wegen der Blockade einen Zwangsstopp einlegen

Geopolitik und Geld

Immer wieder würden Frachter von Regierungen einfach beschlagnahmt – aus unterschiedlichen Gründen. „Foreign Policy“ erinnerte an den Fall der unter britischer Flagge fahrenden schwedischen „Stena Impero“, eines Tankschiffs, 2019 festgesetzt von den iranischen Revolutionsgarden als Retourkutsche an Großbritannien für das Festsetzen eines anderen Schiffs. In Fällen wie diesen heiße der Grund Geopolitik, so das US-Magazin. Gemeinsam sei aber allen Fällen: Die Crews müssten an Bord warten „bis andere entscheiden, dass ihr Schiff weiterfahren kann“.

Die „Ever Given“ in der Bittersee
AP/Mohamed Elshahed
Ägypten und die Reederei des Schiffs streiten um viel Geld – so lange sitzt der Frachter fest

Die „MV Rhosus“ und die Katastrophe von Beirut

Festgesetzt worden war seinerzeit auch die „MV Rhosus“, jenes Schiff, dessen vergessene Fracht im Vorjahr die verheerende Explosion im Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut verursachte. Auch dort war die Crew nach der Beschlagnahmung des Frachters 2013 wegen technischer Mängel und nicht bezahlter Hafengebühren Monate an Bord gefangen gewesen. Die gefährliche Ladung (Ammoniumnitrat) wurde in einer Lagerhalle deponiert, lag Jahre dort und verursachte schließlich die Katastrophe am 4. August 2020. Fast 200 Menschen starben dabei, große Teil der Stadt wurden schwer beschädigt.

Die „MV Rhosus“ bei Beirut
Die „MV Rhosus“ strandete 2013 mit gefährlicher Fracht im Hafen von Beirut im Libanon

Schiffe oft einfach aufgegeben

Manchmal dauere es Jahre, bis Streitigkeiten um Schiffe beigelegt seien, manchmal passiere auch gar nichts, Eigentümer kämen zum Schluss, dass es die Sache finanziell nicht mehr wert sei und gäben Schiffe einfach auf. Auch das war seinerzeit mit der „MV Rhosus“ geschehen. Nach der Katastrophe von Beirut hatte sich dann der britische „Guardian“ ausführlich diesem Thema gewidmet und von einer dunklen Seite der Schifffahrtsindustrie geschrieben. Jedes Jahr würden Schiffe einfach samt Ladung aufgegeben, die Crews ihrem Schicksal überlassen, „unbezahlt und gestrandet“.

Erst vor Kurzem sei neuerlich ein Schiff vor dem ostafrikanischen Somalia samt syrischer Crew „gestrandet“, zitierte „Foreign Policy“ Ben Bailey, Direktor bei der Mission to Seafarers, einer christlichen Wohltätigkeitsorganisation, die weltweit Seeleute unterstützt – rechtlich und materiell. Man habe die Crew mit Nahrungsmittel und Treibstoff für Generatoren versorgt, schilderte Bailey. „Und während sie warten, bekommen sie keinerlei Lohn.“ Dabei müsse man sich vor Augen halten, dass viele Seeleute aus armen Ländern wie den Philippinen stammten und dort Familien zu versorgen hätten.

Gefangene an Bord

Für diese vergessenen Crews bedeute Festsitzen tatsächlich gefangen sein, hieß es in „Foreign Policy“. Obwohl beschlagnahmte Schiffe für gewöhnlich in Häfen lägen, dürften Crews sie nicht verlassen. Noch schlimmer sei die Situation auf aufgegebenen Schiffen, wo die Seeleute nicht wüssten, „wann sie aus ihren schwimmenden Gefängnissen befreit“ würden. Solange die Crews an Bord sind, müssten sie eigentlich auch bezahlt werden, hieß es in „Foreign Policy“. Das geschehe oft aber nicht, etwa wenn Eigentümer Insolvenz anmeldeten. „In allen Fällen zahlen die Crews den Preis“, so Bailey.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) kenne „unzählige“ Fälle aufgegebener Schiffe. Das US-Magazin verwies auf ein Schiff, zurückgelassen vor dem afrikanischen Benin 2018, die Seeleute an Bord monatelang nicht bezahlt und am Ende ohne Versorgung, oder ein weiteres eines türkischen Eigentümers, auf dem die Seeleute eineinhalb Jahre lang kein Geld gesehen hätten. Das alles sei natürlich nicht rechtskonform, es gebe schließlich die Maritime Labour Convention, das Seearbeitsübereinkommen der ILO. Allein: Nur 97 Länder hätten es ratifiziert, einige setzten sich offenbar regelmäßig darüber hinweg – und Reeder wüssten, welche das sind.

Kein Anlegen wegen Pandemie

Niemand fühle sich für aufgegebene Schiffe verantwortlich, zitierte „Foreign Policy“ Simon Lockwood, einen Schifffahrtsexperten beim Risikomanagement- und Beratungsunternehmen Willis Towers Watson und verwies an dieser Stelle ebenfalls auf das Beispiel „MV Rhosus“ und die Katastrophe von Beirut. Außerdem müsse man sich vorstellen, was es heiße, mit den zehn selben Menschen monatelang auf einem Schiff gefangen zu sein, ohne irgendwohin gehen zu können, so Lockwood. Gute Reedereien kümmerten sich um ihre Crews, „aber es gibt auch eine andere Seite dieser Industrie“.

Mit dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie kam dann noch ein weiteres gravierendes Problem dazu, „als ob alles nicht kompliziert genug“ wäre, wie das US-Magazin schrieb. Nach Angaben der Internationalen Schifffahrtskammer, International Chamber of Shipping (ICS), saßen zeitweise an die 400.000 Seeleute auf ihren Schiffen fest und konnten wegen Reisebeschränkungen nicht nach Hause. Die Rede war mehrfach von einer „humanitären Katastrophe“. Viele Länder ließen Schiffe aus bestimmten Regionen einfach nicht in ihre Häfen.