Warteschlange vor Tankstelle im Libanon
Reuters/Aziz Taher
Sprit, Strom, Spitäler

Libanon kämpft mit Versorgungskrise

Der Sprit wird knapp, Medikamente gehen zur Neige, das Licht geht immer wieder aus: Der krisengebeutelte Libanon ist mit einer verheerenden Versorgungslage konfrontiert. Während sich lange Schlangen vor Tankstellen bilden, schlagen auch Spitäler Alarm. Aussicht auf Besserung gibt es nicht.

Das Ausmaß der Krise machten am Freitag Szenen auf den Straßen Beiruts deutlich: Wegen Benzinmangels bildeten sich vor Tankstellen in der Hauptstadt und andernorts lange Schlangen – ob des Kraftstoffmangels kam das in letzter Zeit immer wieder vor. Teilweise kam es zu chaotischen Szenen, weil Straßen und Kreuzungen verstopft waren. Autofahrerinnen und Autofahrer dürfen nur rund zehn Liter auf einmal tanken. Einzelne Personen sollen die Nacht in ihren Autos verbracht haben, berichtete die Zeitung „Arab News“.

Auch Krankenhäuser klagen über einen akuten Mangel an Medikamenten und anderen medizinischen Gütern. Der Vorsitzende der Beiruter Ärztevereinigung, Scharaf Abu Scharaf, sagte der dpa, dringend benötigte Vorräte gingen zur Neige: „Die Lage ist sehr schwierig. Alle Krankenhäuser machen nur noch Notfalloperationen.“ Die Apotheken traten am Freitag in einen zweitägigen Streik, um gegen die Versorgungskrise zu protestieren.

Dialysepatienten in einem Krankenhaus in Beirut
AP/Bilal Hussein
Die Spitäler im Land schlagen Alarm

„Verbrechen gegen die Menschheit“

„Das ist ein Verbrechen gegen die Menschheit“, sagte George Ghanem vom LAU Medical Center Rizk in einem Statement: „Die Spitäler und der medizinische Sektor können so nicht weitermachen. Wir stehen vor sehr schwierigen Tagen, an denen wir keine Patienten mehr aufnehmen können werden.“

In dem Statement, das Ghanem stellvertretend für die Ärzteschaft vorbrachte, rief er die UNO und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) dazu auf, Hilfen direkt an die Krankenhäuser oder das Rote Kreuz zu liefern und die Regierung und die Zentralbank zu umgehen. „Andernfalls wird es morgen Patienten geben, die keine Dialyse bekommen, Patienten, die nicht diagnostiziert werden, und Patienten, die nicht operiert werden“, so Ghanem.

Medikamentenausgabe in einer Apotheke in Beirut
Reuters/Mohamed Azakir
Auch Arzneimittel werden knapp

Drohende Staatspleite und Internetausfall

Dem Land am Mittelmeer gehen die Devisen für lebenswichtige Importe aus. Zudem droht eine Staatspleite. Die libanesische Lira hat zum Dollar rund 90 Prozent ihres Werts verloren. Die Inflation liegt bei mehr als 150 Prozent, für Lebensmittel sogar bei fast 400 Prozent. Dazu kommen die verheerenden Folgen der Coronavirus-Pandemie.

Fachleute warnen, wegen des Kraftstoffmangels könnte auch die Stromversorgung im Land bald vollständig zusammenbrechen und das Internet ausfallen. Schon jetzt müssen die rund sechs Millionen Einwohnerinnen und Einwohner täglich mehrere Stunden ohne Strom auskommen.

Die einflussreiche Hisbollah will angesichts dessen Kraftstoff aus dem Iran importieren. Die „Angst“ vor den USA, die Sanktionen gegen den Iran verhängt hatten, solle überwunden werden, sagte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah am Dienstag in Richtung Regierung – geschieht das nicht, will Nasrallah mit Teheran verhandeln. Zuvor wurde berichtet, dass der Irak den Libanon anstatt mit 500.000 mit einer Mio. Tonnen Öl versorgen will.

Stromleitungen in Beirut
Reuters/Aziz Taher
Stromausfälle sind im Libanon nicht selten

Regierung: Handlungsunfähig und korrupt?

Die libanesische Regierung unter Premier Hassan Diab ist indes nur geschäftsführend tätig. In den Nachwehen der enormen Explosion im Hafen von Beirut war die damalige Regierung zurückgetreten. Seither gelang es nicht, für das multiethnische und -konfessionelle Land eine legitimierte Nachfolgeregierung zu formen.

Die Macht im Libanon ist seit den 1940er Jahren nach einem Proporzsystem aufgeteilt. Der Präsident muss immer ein Christ sein, der Regierungschef ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit. Die Machtverteilung ist kompliziert. Der monatelange Stillstand untergräbt die Chancen des Landes auf Reformen, die notwendig sind, um internationale Finanzhilfen freizuschalten. Zugleich werden Kritikerinnen und Kritiker der politischen Elite schwere Korruption vor.

Weltbank: Krise zählt zu schlimmsten seit 1850er Jahren

Ein verheerendes Zeugnis stellte Anfang Juni auch die Weltbank dem Land aus. Die anhaltende Finanz- und Wirtschaftskrise im Libanon zähle vermutlich zu den schlimmsten Krisen weltweit seit den 1850er Jahren. Sie gehöre wahrscheinlich zu den zehn und möglicherweise sogar zu den drei schwersten Wirtschaftskrisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts, heißt es in dem Bericht. Die „anhaltende politische Untätigkeit“ und die immer noch nicht voll funktionierende Regierung bedrohten die „ohnehin katastrophalen sozioökonomischen Verhältnisse und einen brüchigen sozialen Frieden ohne klaren Wendepunkt in Sicht“.

Die Autoren des Weltbank-Berichts verglichen die Lage im Libanon mit 100 Wirtschaftskrisen weltweit im Zeitraum von 1857 bis 2013. Berechnet wurde dafür ein Krisenindex anhand des jeweiligen Rückgangs des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts (BIP) und der Dauer einer Krise in Jahren. Bei einer optimistischen Einschätzung der Libanon-Krise landet sie im historischen Vergleich auf Platz sechs.

Demonstration in Beirut
AP/Bilal Hussein
In den Straßen Beiruts tun Menschen ihren Unmut gegen die Regierung kund

„Zerbrechlichkeit, Konflikte und Gewalt“

Im schlimmsten Fall gehen die Autoren unter anderem davon aus, dass bis zu einer Erholung auf das Niveau von 2017 im Libanon noch 15 Jahre vergehen werden. Das wäre im untersuchten Zeitraum dann die schlimmste Krise seit der Weltwirtschaftskrise in Chile Ende der 1920er Jahre und seit dem Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939).

Den Libanon beschreibt die Weltbank als von „Zerbrechlichkeit, Konflikten und Gewalt“ geplagten Staat. Es drohe eine „gefährliche Verknappung von Ressourcen“, darunter auch an hoch qualifizierten Arbeitskräften, die sich vermutlich zunehmend nach Jobmöglichkeiten im Ausland umsehen würden.

Für das laufende Jahr erwartet die Weltbank einen Einbruch des BIP von 9,5 Prozent. Die jährliche Wirtschaftsleistung war bereits von 2018 bis 2020 von 55 Milliarden auf geschätzte 33 Milliarden Dollar zurückgegangen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebe nun unter der Armutsgrenze, während die Inflationsrate im März auf 157,9 Prozent und die Arbeitslosenquote auf fast 40 Prozent hochgeschnellt sei.