NS-Verbrechen

Die Last einer NS-Täterfamilie

Im Vorjahr wurde „Rattenlinie“ des britischen Juristen Philippe Sands zum vielbesprochenen Bestseller, ein Buch, das die Geschichte des hohen SS-Offiziers Otto Wächter aufarbeitet. Ihr Schweigen brach danach auch seine Enkelin Friderica Magdalena Wächter-Stanfel. Mit ORF.at sprach sie über die psychische Last, Teil einer NS-Täterfamilie zu sein.

Als Adolf Hitler seine Rede auf dem Balkon der Hofburg am Heldenplatz hielt, standen Charlotte und Otto Wächter etwa einen Meter hinter ihrem „Führer“. Otto Wächter war zu dem Zeitpunkt, im März 1938, bereits ein glühender Nationalsozialist.

1923 war er der Wiener SA beigetreten, 1930 der NSDAP. Wächter war federführend an der Organisation des gescheiterten Juli-Putsches von 1934 beteiligt, in dessen Folge der damalige österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß ermordet wurde. Danach flüchtete er nach Deutschland, im März 1938 kehrte er zurück. Der „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland war für die Großeltern von Wächter-Stanfel ein Freudentag.

Die 43-jährige Künstlerin und Lebensberaterin in Ausbildung beschäftigt sich seit einigen Jahren intensiv mit der Geschichte ihres Großvaters. Eine Hilfe waren ihr die Recherchen des britischen Juristen und Autors Sands, erzählt sie ORF.at. Sands, selbst Nachkomme von Holocaust-Opfern, ging in der Doku „What our fathers did – A Nazi Legacy“ und danach in „Die Rattenlinie“ der Familiengeschichte der Wächters auf den Grund.

„Judenfreies“ Galizien mit Hilfe Wächters

Sie habe schon früh gewusst, dass ihr Großvater ein Nazi war, welch „große Rolle“ er im Nationalsozialismus spielte, habe sie aber erst spät erfahren. Mittlerweile gibt es zwar einen langen Wikipedia-Eintrag über Otto Wächter, doch damals „war im Internet ja nicht viel“, sagt Wächter-Stanfel. Jedenfalls nicht genug, um sich ein umfassendes Bild über einen Mann zu machen, über dessen Nazi-Karriere in der Familie nicht gesprochen wurde und in dem ihr Vater Horst bis heute einen zu Unrecht verteufelten, den damaligen Zwängen unterworfenen anständigen Menschen sieht.

Sands’ Recherchen offenbaren ein anderes Bild. Er zeichnet in seinem Buch die Rolle Otto Wächters in der NS-Zeit minutiös nach: Die Entlassungen nicht NS-konformer Beamter als Staatssekretär in Österreich, die für die Betroffenen oftmals Konzentrationslager bedeuteten; die Vertreibung polnischer Jüdinnen und Juden als Gouverneur von Krakau; die Errichtung des Krakauer Ghettos; die Arbeit als Gouverneur von Galizien, das die Nazis „judenfrei“ sehen wollten und mit seiner Hilfe konnten; von Wächter politisch verantwortete Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung in Lwiw (Lemberg).

Friderica Magdalena Wächter-Stanfel
ORF.at
Friderica Magdalena Wächter-Stanfel arbeitet die Geschichte ihrer Großeltern auf

Psyche litt unter Schweigen

„Als ich 16 Jahre alt war, habe ich ‚Schindlers Liste‘ gesehen. Mich hat dieser Film so bedrückt. Und erst 20 Jahre später erfahre ich: Mein Großvater hat damit zu tun gehabt. Er war Chef der Zivilverwaltung in Krakau und hat das Ghetto errichtet“, sagt Wächter-Stanfel. „Ich habe mein Leben lang furchtbare Schuldgefühle gehabt.“ Mit 18 sei es ihr erstmals psychisch richtig schlechtgegangen. Ihre „psychischen Zusammenbrüche“ hätten Spitalsaufenthalte zur Folge gehabt. Dass ihre Verfassung mit der Familiengeschichte zu tun habe und mit dem Verschweigen, habe sie bereits als junge Frau vermutet, auch wenn sie es „nicht eindeutig“ gewusst habe.

Als sie mit Anfang zwanzig Mutter wurde, begann Wächter-Stanfel eine Gesprächstherapie, um einen Ausstieg aus dem familiären Teufelskreis des Schweigens zu finden. „Ich wollte nicht, dass meine Tochter das gleiche Leid durchmachen muss wie ich.“ In der Kunst fand Wächter-Stanfel ein Vehikel, um unausgesprochene Gefühle auszudrücken, und im Islam später auch eine neue Religion. All das habe zu ihrer „Heilung“ beigetragen. Dass Wächter-Stanfel sich dem Islam zuwandte, war auch eine Abkehr von ihrer Großmutter, die nach dem Krieg „erzkatholisch“ geworden war und wollte, „dass ich Nonne werde“.

Aufarbeitung half

„Es hat mich stark belastet, dass meine Großeltern beide so im Nationalsozialismus involviert waren“, und vor allem, dass „mein Großvater“ für den Tod „so vieler Menschen verantwortlich ist“, sagt Wächter-Stanfel. Doch je mehr sie sich mit den Fakten auseinandersetze, die Familiengeschichte aufarbeite und darüber rede, „desto besser geht es mir“.

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Erschießungsopfer im polnischen Bochnia
Instytut Pamięci Narodowe
In der polnischen Stadt Bochnia wurden am 18. Dezember 1939 in einer „Vergeltungsaktion“ mehr als 50 Polen von der deutschen Besatzungsmacht ermordet
Wehrmachtssoldaten erschießen Polen in Bochnia
Instytut Pamięci Narodowe
Otto Wächter, zum dem Zeitpunkt Gouverneur von Kraukau, schrieb seiner Frau Charlotte in einem Brief, er müsse 50 Polen erschießen lassen
Otto Wächter bei dem Massaker in Bochnia
Instytut Pamięci Narodowe
Wächter war bei dem Massaker zugegen

Schweigen soll Täterfamilien schützen

Die Soziologin Maria Pohn-Lauggas beschäftigt sich mit Biografieforschung mit besonderem Fokus auf die NS-Geschichte. „Das Schweigen über die eigene Schuld“ sei in allen NS-Täter-Familien „präsent“, sagt sie im Gespräch mit ORF.at. Nachkommen wüssten oft sehr viel über Kriegsgefangenschaft und die schwere Zeit nach dem Krieg, doch nicht, „was vor 1945 passiert ist, welche Verbrechen passiert sind“. Schweigen sei auch in Opferfamilien zentral, doch da gehe es darum, mit dem Verschweigen „die Nachfolgegenerationen zu schützen“. In Täterfamilien habe das Schweigen die Funktion, „sich selbst zu schützen“.

Die Auswirkungen für Nachkommen könnten „sehr massiv“ sein, sagt Pohn-Lauggas. „Das geht bis zu Ängsten, die eigenen Großeltern könnten einen töten, Angst, unwert, nicht leistungsstark zu sein.“ Enkelinnen und Enkel würden zudem Fantasien entwickeln, was die Großeltern in der NS-Zeit getan haben, das „Nichterzählte“ wirke besonders stark. Die Wissenslücken „müssen die Nachkommen mit Fantasie füllen“.

Brüche in der Familie

Auch in Wächter-Stanfels Großfamilie dominiert das Schweigen. Nur ihr Vater Horst spricht über seinen Vater Otto. Er gab auch die Tagebücher seiner Mutter Charlotte dem Autor Sands, der damit erst die Familiengeschichte aufarbeiten konnte. Zudem beteiligte er sich an dem Dokumentarfilm, was dazu führte, dass sich die Familie gegen ihn wandte.

Doch tat er es, um zu beweisen, dass sein Vater kein schlechter Mensch gewesen sei. Enkelin Wächter-Stanfel sieht das anders. Dieser Umstand und dass sie ihren Großvater öffentlich einen „Massenmörder“, „mitverantwortlich am Holocaust“ nannte, hat wiederum die Beziehung zu ihrem Vater beschädigt. Er habe sie gewissermaßen „enterbt“.

Opferdiskurs prägt Aufarbeitung in Familien

Oft werde dem Familienmitglied, das in einer NS-Täter-Familie kritische Nachfragen über die Familiengeschichte stellt, Aggression entgegengebracht, sagt Pohn-Lauggas. „Das kann so weit gehen, dass die Person aus der Familie ausgeschlossen wird.“ Wie die Familien mit der eigenen Geschichte umgehen, beeinflusse der herrschende gesellschaftliche Diskurs, sagt Pohn-Lauggas. „In Österreich war das sehr stark der Opferdiskurs.“

Dieser habe in die Familien hineingewirkt und entfalte „nach wie vor eine starke Wirkung“. Daher gebe es in der Regel auch einen Unterschied im Zugang zur Familienvergangenheit, je nachdem, ob die Kindergeneration noch im Krieg geboren ist oder etwa zur 68er-Generation gehöre, die sich schon eher kritisch mit den eigenen Eltern auseinandersetzen konnten.

Prügelattacken gegen Juden

Wächter-Stanfels Großvater war schon in jungen Jahren ein Antisemit. Er habe sich bereits an der Universität Wien an Prügelattacken gegen Juden beteiligt, sei schon 1919 Mitglied des Deutschen Klubs gewesen, „einer Brutstätte des Nationalsozialismus“, sagt seine Enkelin. Wächter versteckte sich nach dem Krieg mehr als drei Jahre in den österreichischen Bergen.

Er habe sich dort mit wenig Geld, aber Hilfe seiner NS-Netzwerke „durchgeschlagen“. Dass er von Amerikanern, Sowjets und Polen als Kriegsverbrecher gesucht wurde, habe ihn nicht davon abgehalten, sich als Komparse beim Film zu betätigen, erzählt Wächter-Stanfel.

NS-Zeit für Großmutter Wächter „großartig“

Der SS-Mann starb 1949 in Rom, von wo aus er, unterstützt von dem österreichischen Bischof Alois Hudal, nach Südamerika fliehen wollte. Ihren Großvater lernte Wächter-Stanfel also nie kennen, anders als ihre Großmutter Charlotte. Sie sei wie eine „Generalin“ gewesen, erzählt sie. „Das Schweigen“ in ihrer Familie, „das bis jetzt andauert, geht von ihr aus.“

Auch ihre Großmutter sei ein Nazi, „antisemitisch und nationalistisch“ gewesen. Wächter-Stanfel sagt, es laste schwer auf ihr, dass ihre mittlerweile verstorbene Großmutter ihre Schuld nie „eingesehen hat“. Charlotte Wächter sprach von der NS-Zeit, in der sie als Ehefrau des Gouverneurs von Krakau und später von Galizien in Glanz und Glamour lebte, noch 1977 von „einer großartigen Zeit“, wie auf Tonbandaufnahmen aus ihrem Nachlass zu hören ist.

Aufarbeitung „Rolle der Enkelinnen und Enkel“

Wächter-Stanfel will offen und öffentlich über ihre Großeltern sprechen, über die Rolle ihres Großvaters im Holocaust, über „das Unheil“, das er über „so viele Menschen“ gebracht hat. Zu glauben, man könne all das in der Familie „schön unter sich ausmachen“, sei „eine Illusion“, sagt die Künstlerin.

Für die Gesellschaft sei es wichtig, dass die Nachkommen der Täter das Schweigen brechen, davon ist Wächter-Stanfel überzeugt: „Ich glaube, dass das die Rolle der Enkelkinder und der Urenkelkinder ist.“ Sie sehe es jedenfalls als ihre „Verantwortung“.