Der deutsche Nationalteam-Torhüter Manuel Neuer mit Kapitänschleife in Regenbogenfarben
Reuters/Alexander Hassenstein
Mehr als nur Sport

Die EM der vielen Botschaften

In der nun abgeschlossenen Gruppenphase hat die Fußball-EM nicht nur sportlich Highlights gesetzt: Wie vielleicht bei keinem Großevent zuvor wurde gezeigt, dass Fußball immer auch eine politische Komponente hat. Und das endete nicht bei den „Regenbogenprotesten“, mit denen das umstrittene LGBTQ-Gesetz in Ungarn ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wurde: Auch der Europäische Fußballverband (UEFA), dessen Sponsoren und Rassismus wurden mehr und anders diskutiert als sonst.

Am Donnerstag trat in Ungarn das Gesetz in Kraft, das unter anderen vorsieht, dass die Darstellung von Sexualität, die von der heterosexuellen abweicht, Kindern und Jugendlichen nicht mehr zugänglich sein soll – und damit aus dem Alltag, aus Büchern und Medien verschwinden muss. Vielleicht wäre die internationale Kritik daran nur eine Randnotiz in den Nachrichten gewesen. Die EU hätte sich in einem lieblosen Tweet „besorgt“ gezeigt. Und dann hätte man sich wieder anderen Themen zugewandt.

Doch mit der Thematisierung bei der Fußball-EM, bei der ausgerechnet am Mittwoch Deutschland und Ungarn aufeinandertrafen, wurde das Thema plötzlich riesig: Deutschland-Kapitän Manuel Neuer kündigte an, eine Kapitänsschleife in Regenbogenfarben zu tragen, was die UEFA als Veranstalter gerade noch genehmigte.

Proteste riefen auch EU auf den Plan

Das Münchner Fußballstadion auch in Regenbogenfarben erleuchten zu lassen, ging dem Europäischen Fußballverband aber als „politisches“ Statement zu weit. Dem Aufschrei über das Verbot trug dann auch die europäische Politik Rechnung: 16 EU-Länder, darunter nach einer Nachdenkpause auch Österreich, kritisierten Ungarn für das Gesetz und bewogen die EU-Kommission schließlich dazu, gegen dieses vorzugehen.

Ein Mann läuft mit einer Regenbogenflagge beim Spiel Deutschland gegen Ungarn vor der ungarischen Mannschaft vorbei
AP/Matthias Hangst
Ein bekleideter „Flitzer“ beehrt die ungarischen Spieler

Die UEFA, deren Ruf nicht erst seit einigen Korruptionsaffären ohnehin, euphemistisch gesagt, angeschlagen ist, argumentierte, dass die Anfrage aus München „politisch“ gewesen sei, weil gegen die Entscheidung der Regierung eines anderen Landes protestiert werden sollte. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban hatte zu diesem Zeitpunkt den zuvor angekündigten Matchbesuch in München bereits abgesagt. Im Versuch, noch irgendetwas zu retten, färbte dann die UEFA am Mittwoch ihr Logo in Regenbogenfarben ein – wohl auch nicht der cleverste Versuch von Krisen-PR.

Nur Lippenbekenntnisse ohne Kulturwandel?

Bei allem gegenseitigen Schulterklopfen, wie aufgeschlossen und fortschrittlich man doch sei, musste dennoch auf ein Faktum hingewiesen werden: Bis dato herrscht auch im europäischen Männerfußball ein Klima, in dem es noch kein einziger aktiver im internationalen Rampenlicht stehender Fußballprofi gewagt hat, sich als homosexuell zu outen. Zumindest in Deutschland, aber auch in andern Ländern, wird diese Debatte schon lange geführt, auf unterschiedlichsten Ebenen. Der ehemalige deutsche Teamspieler Phillip Lahm rät in seiner Biografie Kollegen davon ab, sich zu outen: Ihm schienen die „Chancen gering, so einen Versuch in der Bundesliga mit Erfolg zu wagen und nur halbwegs unbeschadet davonzukommen“.

In diversen Antidiskriminierungsinitiativen wird das ebenso thematisiert, bis hin zur Popkultur, wo etwa der Sänger Marcus Wiebusch schon 2014 mit „Der Tag wird kommen“ einen Song mit der Textfülle einer Kurzgeschichte dazu veröffentlicht hat. Ob sich das Klima nun mit der kollektiven Verregenbogenfärbung nachhaltig geändert hat und Teams, Vereinsführungen, Fans und vor allem Sponsoren dafür bereit sind, dass sich ein Spieler outet? Man wird sehen.

Leon Goretzka zeigt beim Torjubel gegen Ungarn dem Fans ein Herz
Reuters/Alexander Hassenstein
Der deutsche Torschütze Leon Georetzka schickt den ungarischen Fans ein Herz

Knien statt gut gemeinte Transparente

Dass Homophobie und Rassismus bei vielen Fans weiterhin auf der Tagesordnung stehen, zeigte sich bei der EM bei sämtlichen Matches der ungarischen Mannschaft, bei denen Spieler beschimpft und verunglimpft wurden. Die UEFA ermittelt.

Auch in Sachen Rassismus wurden eindeutige Zeichen gesetzt: Die englische und die belgische Mannschaft zeigten vor Spielbeginn jeweils kollektiv einen Kniefall und protestierten mit dieser aus der US-Football-Liga NFL übernommenen Geste gegen Rassismus. Dass andere Mannschaften wie Russland demonstrativ stehen blieben, zeigte interessante Bilder – und sorgte wohl auch mehr für Gesprächsstoff als die zwar gut gemeinten, aber wohl eher harmlosen Anti-Rassismus-Statements, mit denen sich die UEFA schmückt und die sonst jeweils per Transparent für ein paar Sekunden ins Stadion getragen werden.

Belgische Spieler knien vor dem Match gegen Russland
APA/AFP/Anatoly Maltsev
Knieende Belgier und stehende Russen in St. Petersburg

Die Sache mit den Sponsoren

Ebenfalls breiter als sonst diskutiert wurde einmal mehr die Frage der Kommerzialisierung des Sports – aber auch, auf welche Sponsoren die UEFA zurückgreift. Auffällig dabei ist vor allem Werbung aus China, etwa vom staatlichen Haushaltsgerätekonzern Hisense und dem Smartphonehersteller Vivo. Beide stehen im Verdacht, ihre Waren mithilfe von Zwangsarbeit von Uiguren in der Provinz Xinjiang fertigen zu lassen.

Der russische Konzern Gasprom wirbt schon lange im europäischen Fußball, neu und prominent dabei sind der chinesische Social-Video-Dienst TikTok, der es bekanntermaßen mit Persönlichkeitsdaten nicht immer ganz ernst nimmt, und der niederländische Lieferdienstkonzern Lieferando, der wiederum wegen seiner Beschäftigungspolitik in der Kritik steht. Insgesamt sind es, so Kritiker, also recht viele eher in der Kritik stehende Unternehmen, die bei der EM ihr Image aufpolieren sollen.

Die meiste Aufmerksamkeit bekam das Thema aus einem andern Grund: Der portugiesische Superstar Cristiano Ronaldo stellte bei einer Pressekonferenz demonstrativ zwei Cola-Flaschen zur Seite und lobte sein „Agua“. Dass ausgerechnet ein Fußballer, der mit Werbeverträgen für x Firmen jedes Jahr Millionen Euro verdient, plötzlich von einigen als antikapitalistischer Posterboy gefeiert wird, entbehrt nicht einer gewissen Komik.

Ronaldo und die Flaschen

Portugals Teamspieler Cristiano Ronaldo hat bei einer Pressekonferenz zwei Cola-Flaschen zur Seite gestellt und stattdessen eine Wasserflasche hochgehalten.

Klimaproblematik und politische Inszenierung

Auch politische Kritik an der EM war freilich schon im Vorfeld geäußert worden, etwa als bekanntwurde, dass die Europameisterschaft in elf Städten quer über den Kontinent verteilt stattfindet. Mitten in einer Pandemie wirkte die Idee der UEFA dann noch einmal merkwürdiger. Bei allen Signalen für Völkerverständigung: Auch aus Klimasicht ist es 2021 völlig widersinnig, Mannschaften mit ihrem Stab – und einer Vielzahl mehr an Fans – kreuz und quer durch Europa zu fliegen.

Auch am Austragungsort Baku gab und gibt es Kritik: Man erlaubt es dem zumindest semiautoritären Regime von Aserbaidschan, sich in Szene zu setzen. Dass es die Formel 1 dort seit Jahren auch schon praktiziert, macht es kaum besser, im Gegenteil. Und dass sich Austragungsorte auch politisch inszenieren, sieht man wohl am Beispiel Ungarn: In der Puskas-Arena in Budapest gab es als einziges EM-Stadion keine Limitationen wegen Coronavirus-Vorsichtsmaßnahmen: Die ausgesendete Botschaft von den voll besetzten Tribünen ist klar.

Ungarische Fans feiern ihre Mannschaft bei der EM in der Puskas Arena
AP/Tibor Illyes
In Ungarn gibt es gar kein Coronavirus mehr?

Ironie des Schicksals?

Die sportliche Ebene sorgte vielleicht in diesem Zusammenhang für eine Ironie des Schicksals: Jene vier Ländern, die in den vergangenen Jahren mit rechtsstaatlich fragwürdiger Politik für die meiste Irritation in und für die EU gesorgt haben, sind allesamt in der Gruppenphase ausgeschieden. Natürlich muss die Haltung des Nationalteams und der Spieler rein gar nicht mit der Politik des Landes zu tun haben. Aber die Türkei etwa, bei der 2019 etliche Spieler am Rasen salutierten, um den Einmarsch ihres Landes in Syrien zu unterstützen, schied ohne einen einzigen Punkt aus – und das, obwohl die Mannschaft sogar als Geheimfavorit in das Turnier gegangen war.

Auch für Polen war trotz des Superstars Robert Lewandowski in der Vorrunde Schluss, ebenso wie für Russland, das völlig farblos blieb. Und Ungarn überraschte zwar mit starken Auftritten gegen Frankreich und Deutschland, die zwei beherzt erkämpften Unentschieden waren für den Aufstieg aber auch zu wenig.