Bild zeigt leere Straßen in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince.
APA/AFP/Valerie Baeriswyl
Präsident erschossen

Ausnahmezustand in Haiti ausgerufen

Die Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moise in der Nacht auf Mittwoch droht den krisengebeutelten Karibikstaat weiter ins Chaos zu stürzen. Noch-Regierungschef Claude Joseph verkündete den Ausnahmezustand für das Land. Dabei hatte der Präsident vor seiner Ermordung noch am Montag einen neuen Premier ernannt.

„In strikter Anwendung“ des Verfassungsartikels 149 habe er einen außerordentlichen Ministerrat geleitet, erklärte Joseph am Mittwoch. „Wir haben entschieden, im ganzen Land den Belagerungszustand auszurufen.“ Der Regierung verlieh Joseph zusätzliche Befugnisse. Moise war nach Angaben des Regierungschefs in seiner Privatresidenz ermordet worden. Auch die Frau des Präsidenten wurde bei dem Angriff schwer verletzt. Sie befinde sich in einem kritischen Zustand. Es werde versucht, sie zur Behandlung nach Miami zu bringen, sagte der haitianische Botschafter in den USA, Bocchit Edmond.

Bei den Angreifern handelte es sich laut Joseph um Englisch und Spanisch sprechende „Ausländer“. Zu den Hintergründen der Tat machte die Regierung noch keine Angaben. „Obwohl noch Details herauskommen, kann zum jetzigen Zeitpunkt bestätigt werden, dass es sich um einen wohlkoordinierten Angriff durch eine gut ausgebildete und schwer bewaffnete Gruppe handelte“, teilte Haitis Botschaft in den USA mit.

Haiti’s Präsident Jovenel Moise
Reuters/Andres Martinez Casares
Die Hintergründe für den tödlichen Anschlag auf Moise sind noch völlig unklar.

Laut Medienberichten, etwa im „Miami Herald“, gaben die Attentäter an, Mitglieder der US-Drogenbehörde (DEA) zu sein. Der „Miami Herald“ berichtet auch über Videos, die in sozialen Netzwerken kursierten. Auf ihnen sei ein Mann mit amerikanischem Akzent zu hören, der auf Englisch über ein Megafon ruft, dass es sich um einen DEA-Einsatz handle. Haitis Botschafter in den USA schloss das allerdings kategorisch aus. „Auf keinen Fall waren das DEA-Agenten“, sagte er gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.

Noch am Montag neuen Regierungschef ernannt

Eigentlich hätte Joseph das Amt des Premierministers noch diese Woche abgeben sollen. Moise hatte am Montag mit Ariel Henry einen neuen Regierungschef ernannt. Der Neurochirurg sollte Joseph nach nur drei Monaten im Amt ablösen. Es wäre bereits der siebente Wechsel eines Regierungschefs innerhalb von vier Jahren gewesen.

Ein haitianischer Soldat bewacht die Einfahrt zum Anwesen des ermordeten Präsidenten Jovenel Moise in Port-au-Prince.
AP/Joseph Odelyn
Am Mittwoch patrouillierten Wächter vor der Residenz des Präsidenten

Weder Moise noch Henry konnten mangels eines beschlussfähigen Parlaments als Regierungschef bestätigt werden, wie es Haitis Verfassung vorsieht. Am 26. September stehen Präsidenten- und Parlamentswahlen sowie ein Verfassungsreferendum an. Mit dem Referendum wollte Moise die Rolle des Staatschefs stärken.

Joseph erklärte nun aber nach der Ermordung Moise’, er habe die Verantwortung über die Führung des Landes. In einer von ihm unterzeichneten Mitteilungen verurteilte der Premier „diesen abscheulichen, unmenschlichen und barbarischen Akt“. Die Bevölkerung wird zur Ruhe aufgerufen. „Die Sicherheitslage im Land ist unter Kontrolle der haitianischen Nationalpolizei und der haitianischen Streitkräfte.“

Dominikanische Republik schließt Grenze

Als Reaktion auf den Mordanschlag verkündete die Dominikanische Republik die Schließung ihrer Grenze zu Haiti. Die Maßnahme trete mit sofortiger Wirkung in Kraft, sagte eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums der Nachrichtenagentur AFP. Die Dominikanische Republik und Haiti liegen beide auf der Karibik-Insel Hispaniola.

Der kolumbianische Präsident Ivan Duque verurteilte das, was er einen „feigen Akt“ nannte, und drückte seine Solidarität mit Haiti aus. Er forderte eine Mission der Organisation Amerikanischer Staaten, „um die demokratische Ordnung zu schützen“.

Bild zeigt das Krankenhaus in dem „First Lady“ Martine Moise behandelt wird.
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Die Frau des Präsidenten wurde in ein Krankenhaus in der Hauptstadt gebracht

Internationale Bestürzung

Auch UNO-Generalsekretär Antonio Guterres verlangte eine Aufklärung der Tat. „Die Täter dieses Verbrechens müssen vor Gericht gestellt werden“, ließ Guterres über seinen Sprecher Stephane Dujarric mitteilen. Die Vereinten Nationen würden Regierung und Volk von Haiti weiterhin zur Seite stehen.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell zeigte sich „schockiert“ und warnte vor einer „Spirale der Gewalt“ in dem Karibik-Staat. Die Verantwortlichen des Attentats müssten gefunden und zur Rechenschaft gezogen werden, schrieb er auf Twitter.

US-Präsident Joe Biden verurteilte die Tötung seines haitianischen Kollegen als „schändlichen“ Akt. Er sei „schockiert und traurig“, sagte Biden am Mittwoch. Die USA stünden bereit, Haiti weiter dabei zu unterstützen, in dem Land auf Frieden und Sicherheit hinzuarbeiten. „Wir brauchen viel mehr Informationen, aber es ist sehr bedenklich in Bezug auf die Lage in Haiti“, sagte Biden wenig später anwesenden Journalisten zufolge im Garten des Weißen Hauses.

Seit mehr als zwei Jahren per Dekret regiert

Moise war seit Februar 2017 im Amt, nachdem sein Vorgänger Michel Martelly zurückgetreten war. Zuletzt regierte er seit mehr als zwei Jahren per Dekret, nachdem das Land keine Wahlen abgehalten hatte, was zur Auflösung des Parlaments führte. Die Opposition warf ihm Korruption und den Aufbau einer Diktatur vor.

So erließ Moise etwa ein Dekret, das die Befugnisse der Justiz einschränkte. Zugleich schuf er einen Geheimdienst, der nur dem Präsidenten untersteht. Moise selbst hatte die Anschuldigungen stets bestritten und auf eine Verfassungsreform gedrängt, mit der er nach eigenen Angaben für mehr politische Stabilität sorgen wollte.

Demonstration gegen Haitis Präsident Jovenel Moise in Port-au-Prince
Reuters/Jeanty Junior Augustin
Im Februar waren Tausende gegen Moise auf die Straße gegangen

Unter Moise’ Präsidentschaft verschärften sich die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in dem Land mit elf Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Die Bandengewalt in der Hauptstadt Port-au-Prince stieg stark, die Inflation schnellte in die Höhe, und Lebensmittel und Treibstoff werden knapper. Vor Kurzem warnte das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF, dass in Haiti ohne dringende Hilfe in diesem Jahr voraussichtlich 86.000 Kinder im Alter von weniger als fünf Jahren an schwerer akuter Unterernährung leiden würden. Das Land kämpft immer noch mit den Folgen des verheerenden Erdbebens von 2010 und dem Hurrikan „Matthew“, der 2016 eine Spur der Verwüstung zog.

Bandenkriminalität außer Kontrolle

Kämpfe zwischen Banden um die Kontrolle über Teile von Port-au-Prince trieben nach Zahlen der UNO-Agentur zur Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) seit Anfang Juni mehr als 14.700 Menschen in die Flucht getrieben. Rund ein Drittel des Gebiets von Port-au-Prince ist laut diesen Angaben derzeit von Gewalt betroffen, die von geschätzt 95 bewaffneten Banden ausgeht. Es habe zahlreiche Todesfälle sowie auch Vergewaltigungen gegeben, viele Häuser seien geplündert und angezündet worden.

Es ist in der früheren französischen Kolonie ein offenes Geheimnis, dass die Banden Verbindungen zu Politikern haben. Gewalt geht auch immer wieder von Sicherheitskräften aus – eine Polizeigewerkschaft befindet sich im Konflikt mit der Führung der Nationalpolizei PNH.