Bild zeigt ein Gruppe junge Männer in einem Flüchtlingscamp nordöstlich von Vilnius.
AP/Mindaugas Kulbis
Belarus

Migranten als Druckmittel gegen EU

81 Flüchtlinge sind im gesamten Vorjahr in Litauen aufgegriffen worden, heuer waren es nach Angaben aus Vilnius von Donnerstag bereits mehr als 1.500. Sie kommen vor allem aus dem Irak, Syrien und Afghanistan. Orchestriert werden die Fluchtbewegungen vom belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko – gleichsam als Rache an der EU wegen der verhängten Sanktionen.

„Ihr Endziel ist nicht Litauen. Sehr viele von ihnen haben keine Pässe bei sich. Die Pässe haben sie bereits in ihre Zielländer vorausgeschickt, höchstwahrscheinlich Deutschland, Schweden und einige andere.“ Das Problem sei also ein „europäisches“, sagte Litauens Ministerpräsidentin Ingrida Simonyte im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“).

Belarus habe den Migrantinnen und Migranten Flüge nach Minsk angeboten, sagte Simonyte am Mittwoch; entsprechende Belege seien gefunden worden. „Es gibt Reisebüros, Direktflüge, die Minsk zum Beispiel mit Bagdad verbinden, und es gibt Agenturen sowohl in Belarus als auch in anderen Ländern, die hier tätig sind und ‚Touristen‘ nach Minsk locken“, sagte die Regierungschefin. „Unserer Ansicht nach zielt das unter anderem darauf ab, unserem Land zu schaden, die Lage zu destabilisieren.“

Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko.
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Lukaschenko kommen die Migranten in seinem Politpoker sehr gelegen

EU sieht „politisch motiviertes Muster“

Derzeit ist nur etwa ein Drittel der Grenze Litauens zu Belarus – einer EU-Außengrenze – mit Kameras oder Zäunen gesichert. Nun soll schnellstmöglich nachgerüstet werden. Inzwischen werden Soldaten bei der Sicherung der Grenze helfen, kündigte Simonyte an. Unterstützung kommt auch von der EU – seit Anfang Juli sind sechs Beamte der Grenzschutzagentur Frontex an der Grenze stationiert, bis Ende des Monats soll ihre Zahl auf 30 ansteigen.

Denn dass die Lage auch für die EU besorgniserregend ist, haben Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratschef Charles Michel bereits klargemacht. „Wir verurteilen alle Versuche, illegale Migration zu instrumentalisieren, um Druck auf die EU-Mitgliedstaaten auszuüben“, sagte Michel bei einem Besuch in Litauen. Von der Leyen spricht von einem „politisch motivierten Muster“.

Ein junger Mann schneidet einem anderen die Haare.
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Die plötzliche Migrationsbewegung in Litauen wird als von Belarus gelenkt angesehen

Auch der im polnischen Exil lebende belarussische Oppositionelle Pawel Latuschko hält Lukaschenkos Drohungen, Europa mit Flüchtlingen zu destabilisieren, für eine durchorganisierte Spezialoperation. Es habe bisher nie eine natürliche Migrationsbewegung über Belarus gegeben. „Das Regime organisiert sie selbst künstlich“, sagt Latuschko.

„Lukaschenko ist ein rachsüchtiger Mensch“

Der frühere Kulturminister hält die Situation daher auch für nicht vergleichbar mit der Türkei, deren Präsident Recep Tayyip Erdogan auch regelmäßig versuche, die EU mit Migranten unter Druck zu setzen. Latuschko geht davon aus, dass ein Reisebüro im Auftrag der Minsker Präsidialverwaltung Charterflüge etwa aus dem Irak organisiert und Flüchtlinge gezielt ins Land schleust. „Danach fährt man sie organisiert an die Grenze, damit sie diese illegal überqueren“, sagte der frühere Diplomat.

„Lukaschenko ist ein rachsüchtiger Mensch. Er möchte sich an der EU für die Sanktionen rächen und eine Konfliktsituation schaffen“, hielt Latuschko fest. Momentan kämen die meisten Flüchtlinge aus Belarus nach Litauen. Der Übergang sei weniger gut gesichert als die Grenze zu Polen. „In der zweiten Etappe dieses Konflikts kann man nicht ausschließen, dass auch Polen, Lettland und die Ukraine betroffen sein werden.“

Eine Gruppe junger Männer beim Essen in einem Flüchtlingscamp nordöstlich von Vilnius.
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An die hundert Menschen werden derzeit täglich an der Grenze von Belarus und Litauen aufgegriffen

Sanktionen könnten schmerzhaft werden

Die EU hatte vor rund zwei Wochen weitreichende Wirtschaftssanktionen gegen Belarus in Kraft gesetzt, um den Machtapparat Lukaschenkos zu schwächen. Die Sanktionen richten sich deswegen vor allem gegen Staatsunternehmen und sehen eine Beschränkung des Zugangs zum Kapitalmarkt der EU vor. Mit den Strafmaßnahmen reagiert die EU auf die anhaltende Unterdrückung der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition in Belarus. Darunter fällt auch die aus EU-Sicht illegale Festnahme des regierungskritischen Bloggers Roman Protassewitsch.

„Das Inkrafttreten der Sanktionen kann sich empfindlich auf die Zahlungsfähigkeit des Landes auswirken, weil die Deviseneinnahmen in erster Linie aus dem Handel mit der Europäischen Union kommen. Und in der Folge betrifft das auch die Fähigkeit von Belarus, Verpflichtungen zu erfüllen. (…) Erinnert sei auch daran, dass die sektoralen Sanktionen der EU erst beginnen, sich nach Ablaufen der geltenden Verträge voll zu entfalten – also zu Beginn des kommenden Jahres“, schrieb am Donnerstag die russische Tageszeitung „Nesawissimaja Gaseta“.

Druck auf Medien wird erhöht

Dass Lukaschenko trotz drohender wirtschaftlicher Probleme im Land nicht an eine Kurskorrektur denkt, zeigte sich am Donnerstag, als der Zugang zu einem weiteren unabhängigen Onlinenachrichtenportal gesperrt wurde. „Nascha Niwa“ werde die Veröffentlichung illegaler Inhalte vorgeworfen, teilte das Informationsministerium mit. Die Redaktion teilte mit, Chefredakteur Jegor Martinowitsch sei festgenommen worden. Es gebe zudem Durchsuchungen bei Mitarbeitern. Über Razzien klagten auch die unabhängige „Brestker Zeitung“ und die Redaktion des Portals Intex-Press.