Fotos von Marcel Proust und seinem Bruder Robert
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Marcel Proust, 150

Die Entdeckung der Kindheitswelt

„Uhren ohne Zeiger“ – unter dieses Leitbild hat der Literaturwissenschaftler Walter Jens die Leistungen des modernen Romans gestellt. Er meinte damit die Auflösung aller Erzähllogiken und Zeitkriterien. Und zielte auf Autoren wie James Joyce, Robert Musil, William Faulkner – und zunächst: Marcel Proust. Auf kein anderes Werk schien diese Zuschreibung besser zu passen. Am 10. Juli 1871 wurde Proust in eine Zeit voller Umbrüche geboren. Und wollte vielleicht gerade deshalb die Welt noch einmal ordnen. Doch sein Ordnungsrahmen war seine Erinnerung, sein subjektiver Blick – und die Suche nach einer Kindheit, die nicht nach äußeren Zwängen, sondern nur nach den Dimensionen des eigenen Erlebens geordnet war. Bei ihm wurden die kleinen Dinge riesengroß. Und das Werk uferlos.

Die Vermessung der Welt kommt nicht ohne fixe und vorgegebene Parameter aus. Es braucht Leitgrößen, nach denen sie geordnet werden kann. Lange Zeit, vor allem in der Literatur des 19. Jahrhunderts, war der Status des Erzählers entscheidend, wurde sein Blick in einem erwachsenen Ich verortet, das allwissend und gespenstisch objektiv alle Fäden des Geschehens in der Geschichte spann. Doch spätestens mit Marcel Prousts Monumentalwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ wird die Perspektive des Romans für die Welt eine andere. Der Erzähler – oder wie in diesem Fall das konstruierte Ich eines Einzelkindes, das Proust nie war – schlüpft mit in den Text und konturiert aus dieser literarischen Welt alle Blicke auf eine erlebte und vor allem erinnerte Kindheit.

Walter Benjamin, der nach den Lektüreerfahrungen Prousts seine „Kindheit um 1900“ modellieren wird, sieht den von Proust in ständiger Textarbeit vollzogenen Akt des Erinnerns, der, wie er richtig hinweist, immer auch nach der „Penelopearbeit des Vergessens“ verlangte, als zentrales Charakteristikum des Werkes. Seine Setzer bei Gallimard habe Proust in die Verzweiflung getrieben, so Benjamin, weil alle Druckfahnen nie einen Hinweis auf einen Satzfehler hatten.

Marcel Proust mit seinem kleinen Bruder Robert
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Marcel, rechts, mit seinem jüngeren Bruder Robert: Er wird ihn „kleinen Wolf“ nennen und von Robert verlangen, dass er seinen größeren Bruder mit „Majestät“ anspricht. In der „Recherche“ ist Marcel ein Einzelkind.

„Aller verfügbarer Raum mit Text gefüllt“

Vielmehr habe Proust alle Zwischenräume des gedruckten Textes mit neuen textlichen Assoziationen gefüllt: „Aller verfügbare Raum war mit neuem Text erfüllt. So wirkte sich die Gesetzlichkeit des Erinnerns noch im Umfang des Werkes aus.“ Auch Montaigne hatte viele Jahrhunderte vor Proust die letztgültige Ausgabe seiner „Essais“, damals übrigens auch schon die gedruckte Version zwei, mit einer dritten handgeschriebenen Version überarbeitet – getrieben von der Not, alles Leben und Noch-nicht-Gesagte mit der Feder festhalten zu müssen. „Vivre, c’est apprendre à mourir"/ "Leben heißt sterben lernen“, hinterließ Montaigne mit Verweis auf Seneca gerade auch Proust die Erkenntnis vom Akt des Schreibens als ein Ankämpfen gegen den Tod, als Akt gegen die Tilgung einer zu hinterlassenden Erfahrung.

Plan von Combray zur Kinderheit Prousts
Suhrkamp
Ein Plan zur Kindheitswelt Prousts. Man kann in Illiers Orte des Romans lokalisieren. Die Figuren lösen sich aber von diesem Real-Tableau ab.

Von einer „Syntax uferloser Sätze“ schreibt Benjamin mit Begeisterung für die Sprache, die schon seine Zeitgenossen verstörte wie in Bewunderung versetzte. Niemand beherrschte derart lange wie grammatisch einwandfreie Sätze wie Proust. „Vom Nil der Sprache, welcher hier befruchtend in die Breiten der Wahrheit hinübertritt“, schreibt Benjamin pathetisch. Wer freilich bis hinauf zu Ingeborg Bachmann, nicht zuletzt aber gerade auch Elfriede Jelinek blickt, erkennt, welche Befreiung vom Werk Prousts und diesem Fluss der Assoziationswelt ausgegangen sein muss. Wo Proust ja noch eine hinter der Sprache liegende, unscharfe Welt ins Visier nimmt, hat spätestens bei Jelinek die Sprache selbst die Bedeutungserzeugung übernommen, die dem Ich die letzten Steuerungsmöglichkeiten aus der Hand nimmt.

Franz Schuh über Scharfsinn und Schmäh bei Proust

Marcel Proust wäre dieser Tage 150 Jahre alt geworden. Mit „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ hat er ein literarisches Monument hinterlassen, das zu seinen Lebzeiten in seiner Wirkkraft weit unterschätzt worden ist. Einer, dessen Wort-Wirkmacht ohne Zweifel die Gegenwart ebenfalls überdauern wird, ist der Wiener Philosoph, Essayist und Autor Franz Schuh: Er sagt über sich selbst, ein Proustianer zu sein.

„Man sollte Proust affektlos sehen“

Während sich die männliche Proust-Kritik über ein Jahrhundert in pathetischer Übersteigerung zur Bedeutung dieses Werkes übte, empfahl Ingeborg Bachmann, „Prousts Kühnheiten affektlos zu sehen“. Denn „jedesmal, wenn ein neuer Schriftsteller in eine noch unerforschte, ungestaltete Domäne“ eintrete, so Bachmann in ihrem großartigen erfundenen Interview „Die Welt des Marcel Proust – Einblicke in ein Pandemonium“, „erscheint es wie ein Sakrileg“. Proust stehe der Sinn nicht nach romantischer Verklärung, „sondern nach der Wahrheit und nichts nach der Wahrheit“. Getrieben seien sein Werk und seine Welt „von der vergeblichen Suche des Menschen nach der Freude, nach ‚plaisir‘“. Diese Suche bestimme die Handlungen, doch, so Bachmann: „Die Opfer, die er dafür bringt, stehen in keinem Verhältnis zur Erfüllung, da sie nie dann eintritt, wenn sie uns am nötigsten ist, sondern erst zu einem Zeitpunkt, an dem wir längst auf der Jagd nach einem anderen Ziel sind.“

Retour zum Anfang und damit nach „Combray“

Nimmt man Bachmanns Einsicht ernst, dann sollte man gerade zum 150. Geburtstag Prousts zurücksteigen zu allen Anfängen dieses Monumentalwerks, dort, wo die Welt eingerichtet wird, rund um Marcel, der sich vom kalten Lindenblütentee und dem Biss in die Madeleine, diesem in Geschmack und Kontur so undefinierbaren Weichgebäck, angeregt, zurück in die Kindheit projiziert. Vieles für die literarische Welt bei Proust, scheint in der Realität angelegt. Da ist die geliebte Mutter, Jeanne Weil, eine gebildete Jüdin, die der aus Illiers stammende katholische Vater Jean Proust zum Ausbruch des Französisch-Deutschen Kriegs heiratet.

Jean Proust ist als Arzt und einer der führenden Hygieneexperten seiner Zeit die Verkörperung des Vernunftprinzips, die Mutter wiederum die Quelle aller überzogenen Vorstellungen. Ihr wird sich das Kind, so sagt es die Konstruktion des literarischen Marcel, in jeder Hinsicht ausliefern – und das so sehr, dass der kleine Bruder Robert, den er „den kleinen Wolf“ nennt, für die Literatur getilgt werden muss. Der kleine Marcel, er hat eine fixe Größe, und das ist die Mutter, die die Gestalt der Welt garantiert und die Gefahren für Leib und Leben des schmächtigen Buben wegzuhalten weiß. Wenig Wunder, dass der Tod der Mutter zum Zusammenbruch aller Koordinaten dieser Welt führen wird. Proust wird, bevor er nach seinen dandyhaften Anfängen und Ruskin-Übersetzungen (bei denen erst wieder die Mama half, weil sie im Gegensatz zu ihrem Sohn tatsächlich Englisch beherrschte) sein Monumentalwerk beginnt, monatelang in einem Hotel in Versailles herumliegen und erst mit der Dämmerung aufstehen.

Der Rückweg in die Kindheit erfolgt aus einer dauernden Selbstisolation eines Menschen, der nicht zuletzt gegen seine Asthmaerkrankung ankämpfen muss. Die Suche nach der verlorenen Welt, sie beginnt in „Combray“, so der Name des ersten Abschnitts des Bandes „In Swanns Welt“. Die Koordinaten von Prousts literarischer Welt werden vom Rand aus gesetzt. Und es ist stets die Beiläufigkeit, die zu den wichtigen Spuren in diesem Werk führt. Die Ordnung der Welt, sie funktioniert über Geschmäcke, Farben, Gerüche. Sie bestimmen alle Dimensionen des Seins. Nicht der reale Charakter, die Bedeutung, die Dinge und Personen für den Erzähler haben, sind entscheidend.

Bahnhof von Illiers Combray
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Der kleine Ort Illiers trägt seit 1971 den Zusatznamen Combray, wegen Prousts Anfangskapitels zur „Recherche“. Hier fand er in Gärten wie dem „Pre Catalan“ sein Kindheitsparadies. Wer Illiers je besucht hat, greift liebend gern zur Literatur. Am Ende ist die Verklärung doch schöner als ein stilles Kuhdorf in der Nähe von Chartres.

„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“

Und so beginnt der Roman mit einer urkindlichen Angst: der vor dem Schlafengehen; der von der Trennung von der Mutter – und der Anziehungskraft all dessen, was in der Nacht passieren kann. Von hier weg beginnt die Vermessung der Welt. „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“, lauten die ersten, mittlerweile weltberühmten Sätze der „Recherche“: „Manchmal fielen mir die Augen, kaum wenn die Kerze ausgelöscht war, zu, dass ich keine Zeit mehr hatte zu denken: ‚Jetzt schlafe ich ein‘.“

Es soll Menschen geben, die nie über die Suggestionskraft dieser ersten Sätze hinausgekommen sind, weil ihnen schon dieser Anfangsgedanke Prousts das Blei auf die Lider drückt. Alle anderen werden mit dem Erzähler eine Reise durch die Abenteuer der Nacht, der Gesetze des Traumes und der Perspektivierung der Welt aus dem ständigen Wach-Schlaf-Wechsel eines Kindes finden. Kaum ist der nächste Tag angebrochen, muss die Welt neu sortiert werden, ist die Dimensionierung zwischen Traumwelt und Wachwelt eine Anstrengung, die nur mit festen Ritualen zu bewältigen ist. Und schon steht mit dem Kommen der Nacht die nächste fundamentale Unsicherheit im Raum: „Nach dem Abendessen, ach! musste ich Mama bald verlassen, die noch zurückblieb, um mit den anderen zu plaudern.“

Die Ordnung des Schlafes, die Ordnung der Welt

Und so entsteht ein neuer Abstieg in die Nacht, durchlebt der Erzähler erneut seine Welt als Kind, in die sich doch stets der Erwachsene einschleicht und die Ordnung seiner Welt auf die des Kindes in sich überträgt: „Der Schlafende spannt in einem Kreise um sich den Ablauf der Stunden, die Ordnung der Jahre und der Welten aus. Beim Erwachen orientiert es sich dann nach dem Gefühl an ihnen, er liest in einer Sekunde daraus ab, an welchem Punkt der Erde er sich befindet, wie viel Zeit bis zu seinem Wachsein, verflossen ist.“ 1913 wird der erste Teil der „Recherche“, damals noch mit Geld des Autors für die Veröffentlichung mitfinanziert, erscheinen. Und 1913 ist das Schlüsseljahr für ein anderes großes Werk der Moderne.

Nachricht zur Verleihung des Prix Goncourt an Marcel Proust
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1919, wenige Jahre vor seinem Tod erhält Proust die höchste Auszeichnung für seine Arbeit, die man in Frankreich bekommen kann, den „Prix Goncourt“

Musils „Mann ohne Eigenschaften“ wird in diesem Jahr spielen – dabei aber die Erfahrungen der Nachkriegswelt, die ja Proust nicht mehr wirklich erlebt, mit in die verlorene Welt, die auch bei Musil beschrieben wird, transportieren. In einem Punkt aber treffen einander Proust und Musil ganz besonders: Geschickt manipulieren beide ihre Leser, die Subjektivität ihrer Konstruktionen, hier die Welt Marcels, da die Welt Ulrichs mit der Gestalt des allgemeingültigen Essays zu verbinden. Das, so sind sich beide sicher, was sie an der Erforschung des Innenraums geleistet hätten, müsse zur Allgemeingültigkeit eines menschlichen Gesetzes erhoben werden. Eine vergleichende Lektüre scheint lohnend, schreit aber nach einem langen, heißen, trägen Sommer.

Ein Hinweis zu den Übersetzungen: An Proust-Übersetzungen haben sich viele versucht. Walter Benjamin war einer davon. Die erste deutschsprachige Gesamtübersetzung von Proust stammt von Eva Rechel-Mertens, die auch den Zitaten hier zugrunde gelegt wurde. Die Schülerin von Ernst Robert Curtius hat mit ihrer Übersetzung den Standard gesetzt, auch wenn es mittlerweile mehrere Übersetzungen gibt, seit das Urheberrecht an Prousts Arbeiten 70 Jahre nach seinem Tod erloschen ist. Viele französische Klassiker wurden deutlich schlechter übersetzt als Proust. Eine Debatte über die beste Übersetzung wurde lange im deutschen Feuilleton geführt. Sie ist exemplarisch über einen Artikel der „F.A.Z.“ nachzulesen. Wer die Rechel-Mertens-Ausgabe bei sich hat, wird eine der Bauform des Originals recht getreue Übersetzung vor sich haben. Die erste Übersetzung Prousts durch Rudolf Schottlaender war einst von Curtius derart vernichtend zerrissen worden, dass die deutschsprachige Proust-Rezeption lange ins Stocken geraten war. (Anm., GH)