Bewaffneter afganischer Polizist bei einem Checkpoint
Reuters/Mohammad Ismail
US-Abzug

Afghanistans Sicherheitskräfte straucheln

Der vollständige Abzug der US-Streitkräfte aus Afghanistan ist nur noch eine Frage von Wochen. Zuletzt standen die militant-islamistischen Taliban den strauchelnden Sicherheitskräften des Landes gegenüber. Diese fliehen zu Tausenden aus dem Land oder ergeben sich. Experten befürchten eine Eskalation des bewaffneten Konflikts.

Nach eigenen Angaben haben die Taliban seit dem Beginn des Abzugs aller NATO-Truppen Ende April bereits 85 Prozent des Landes erobert. Sie kontrollierten rund 250 der knapp 400 Bezirke in Afghanistan – eine Darstellung, die allerdings nicht unabhängig überprüft werden kann und von der Regierung in Kabul bestritten wird. Erst am Mittwoch verkündeten die Taliban, einen wichtigen Grenzübergang nach Pakistan erobert zu haben. Laut afghanischer Regierung wurde der Angriff „abgewehrt“. Vonseiten der pakistanischen Sicherheitsbehörden hieß es aber, dass die Taliban ihre Flagge am Grenzübergang gehisst hätten.

Laut afghanischen Regierungskreisen konzentriert sich die Armee des Landes mittlerweile darauf, die größeren Städte, wichtige Straßen sowie Grenzposten gegen den Vormarsch der Dschihadisten abzusichern. Die Taliban haben fast alle größeren Städte umzingelt. Die USA befürchten, dass die Hauptstadt Kabul innerhalb von Monaten fallen könnte.

Taliban warnen Türkei

Als Teil der Anstrengungen zur Verteidigung wurde vor einigen Tagen ein Luftabwehrsystem auf dem Flughafen von Kabul installiert. Es soll die Hauptstadt vor Raketenangriffen schützen. Die Armee teilte mit, das System sei von „ausländischen Freunden“ geliefert worden, ohne diese Angaben zu präzisieren. Die Türkei hatte unlängst angekündigt, nach dem US-Abzug Sicherheitsinfrastruktur für den Kabuler Flughafen bereitzustellen.

Die Taliban warnten die Türkei am Dienstag jedoch davor, ihre Truppenpräsenz in Afghanistan auszuweiten. Das sei „verwerflich“ und verstoße gegen die „Souveränität und territoriale Integrität“ Afghanistans, hieß es in einer am Dienstag von den Taliban veröffentlichten Erklärung.

Eine Verlängerung der „Besatzung“ werde Feindseligkeit gegenüber türkischen Beamten hervorrufen und die bilateralen Beziehungen beschädigen. Aus dem türkischen Außenministerium hieß es, man sei in Gesprächen mit der internationalen Gemeinschaft, insbesondere den USA, und mit den afghanischen Behörden.

Druck auf Sicherheitskräfte steigt

Die Taliban wollen nach eigenen Angaben die Kämpfe nicht in die Städte hineintragen. Die Kämpfe hätten sich inzwischen von den „Bergen und Wüsten“ an die „Türen der Städte“ fortbewegt, doch wollten die Taliban „keine Kämpfe innerhalb der Stadt“, sagte Amir Khan Muttaki, einer der Anführer, in einer am Dienstag auf Twitter verbreiteten Botschaft.

Bewaffnete ehemalige Mudschahedin
Reuters/Jalil Ahmad
Bewaffnete Milizen stellen sich den Taliban

Dennoch erhöhen die Taliban den Druck auf die Sicherheitskräfte kontinuierlich. Niemand habe das Ausmaß und die Geschwindigkeit des Zusammenbruchs der afghanischen Einheiten vorausgesehen. "Es gibt ein Eingeständnis von unserer Seite, dass wir diesen Taliban-Vormarsch nicht vorhergesehen haben, wir waren nicht umfassend vorbereitet“, zitierte der britische „Guardian“ einen hochrangingen Beamten.

Tausende seien über die Grenze geflohen und hätten den Taliban Waffen und Ausrüstung in Massenkapitulationen übergeben. Auf Videos in sozialen Netzwerken wurden Kämpfer gezeigt, wie sie ihre Feinde umarmten. Das Ausmaß der Verluste an Mann, Ausrüstung und Moral ist so tiefgreifend, dass ein erfahrener Offizier von einem Zerfall der Streitkräfte sprach.

Gefahr eines Bürgerkriegs

Der afghanische Verteidigungsminister Bismillah Khan Mohammadi glaubt dennoch, den Vormarsch der Taliban aufhalten zu können. Aber er rechnet damit, dass es Wochen dauern werde, bis sich das Blatt wendet, und er ist darauf gefasst, dass Tausende weitere Soldaten zuerst überlaufen. Beobachter zweifeln daran und schließen einen Bürgerkrieg nicht aus.

„Die Kämpfe werden sich intensivieren, und die afghanischen Kräfte werden große Probleme haben, militärisch alleine durchzuhalten“, sagte der afghanische Sicherheitsexperte Bari Ares. Inzwischen rief die afghanische Regierung laut „Guardian“ die Zivilbevölkerung auf, sich zu bewaffnen und Milizen zu bilden, um die Taliban zu bekämpfen. Kritiker fürchten, dass Warlords das Land ins Chaos stürzen könnten.

Warnung vor humanitärer Katastrophe

Das UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) warnte angesichts steigender Spannungen vor einer humanitären Krise. Rund 270.000 Afghanen seien seit Anfang des Jahres zusätzlich im eigenen Land vertrieben worden, sagte UNHCR-Sprecher Babar Baloch am Dienstag in Genf. Insgesamt seien damit mehr als 3,5 Millionen Menschen im Land auf der Flucht.

Von Taliban geflohene afghanische Frau
AP/Rahmat Gul
Tausende sind vor den Taliban auf der Flucht

Nach Angaben des UNHCR fliehen Menschen, weil die Sicherheitslage immer schwieriger wird, weil sie nicht mehr arbeiten können und soziale Unterstützung teils eingestellt worden ist. Zudem berichteten Flüchtende von Erpressung durch bewaffnete Gruppen. Wenn es keinen Friedensschluss in Afghanistan gebe, werde die Zahl der Flüchtenden auch über die Landesgrenzen hinweg steigen, warnte das UNHCR.

Nach Angaben des Instituts Afghanistan Analysts Network in Kabul sind Fahrzeugskonvois unterwegs mit Menschen, die versuchen, sich in Nachbarländer durchzuschlagen, darunter viele, die versuchen, über den Iran in die Türkei zu gelangen. Über die türkischen Grenzen der Provinz Van kommen nach Angaben von humanitären Helfern jeden Tag mehr als 1.000 Menschen aus Afghanistan.

USA halten an Abzug fest

Trotz der alarmierenden Situation hatte US-Präsident Joe Biden am Donnerstag angekündigt, dass der Afghanistan-Einsatz am 31. August enden werde – nach knapp 20 Jahren. Dann sollen nur noch US-Soldaten zum Schutz der Botschaft in Afghanistan verbleiben. Vor allem die US-Luftstreitkräfte waren bisher ein zentraler Faktor. Sie boten wichtige Unterstützung, wenn die afghanischen Truppen in die Defensive gerieten.

Am Montag gab der Kommandeur der US- und der NATO-Truppen in Afghanistan, General Austin Miller, die Befehlsgewalt ab. Der Kommandeur des US-Zentralkommandos (Centcom) in Tampa im US-Bundesstaat Florida, General Kenneth McKenzie, soll die Operation in ihren letzten Wochen führen. Die Kommandoübergabe erfolgte am Montag bei einer Zeremonie in Kabul. Auf dem Flug sagte McKenzie mitreisenden Reportern Angaben der „Washington Post“ zufolge, die Taliban strebten einen „militärischen Sieg“ über die afghanische Regierung an.

Präsident Ashraf Ghani strebt eine Waffenruhe mit den Taliban an, dann Wahlen und die Bildung einer „Friedensregierung“. Die USA favorisieren eine Übergangsregierung unter Einbeziehung der Taliban, was Ghani bisher ablehnt. Die Taliban wiederum bestehen auf einer Rückkehr zu einem islamischen Emirat. „Die Taliban scheinen derzeit überzeugt, dass sie die Macht mit Gewalt an sich reißen können“, sagt der Experte Ramish Salehi. Bald werde sich zeigen, ob sich „Demokratie gegen ideologische Kräfte“ behaupten könne.

Schallenberg kritisiert Afghanistan

ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg kritisierte am Montag die jüngste Aufforderung der afghanischen Regierung, Abschiebungen in das Krisenland drei Monate auszusetzen. „Dass die Taliban in Afghanistan präsent sind, ist ja keine neue Situation“, sagte Schallenberg, versicherte aber, man werde Afghanistan nicht im Stich lassen.

So eine Beziehung könne „nie eine Einbahnstraße“ sein, „Verträge sind einzuhalten“, sagte der Außenminister. Es könne nicht sein, dass „Europa immer am kürzeren Ast sitzt“ und dem „Druck anderer Staaten in Migrationsfragen ausgesetzt“ sei, so der Außenminister.

Österreich und viele andere europäische Länder schieben Asylwerber mit negativem Bescheid nach Afghanistan ab. Abschiebungen in das Krisenland sind allerdings umstritten. Finnland setzte die Abschiebungen am Montag angesichts der verschlechterten Sicherheitslage vorerst aus.