Fronex-Schiff patroulliert im Meer neben einem Schlauchboot mit Flüchtlingen
Reuters/Costas Baltas
EU-Bericht

Frontex schaute bei Pushbacks weg

Die europäische Grenzschutzagentur Frontex ist schon mehrmals mit schweren Vorwürfen in Zusammenhang mit Zurückweisungen von Geflüchteten konfrontiert gewesen. Eine Arbeitsgruppe des Europäischen Parlaments untersuchte die Vorwürfe nun vier Monate lang, am Donnerstag wurde ihr Bericht präsentiert. Frontex habe schwere Menschenrechtsverletzungen gebilligt, so die Schlussfolgerung.

Die Vorwürfe drehen sich um mutmaßlich illegale Pushbacks von Geflüchteten vor Europas Küsten. So hätten etwa griechische Grenzbeamte nächtens Menschen in Schlauchbooten in der Ägäis Richtung Türkei abgedrängt, den Motor entfernt und ihrem Schicksal im Meer überlassen. Man habe Aufnahmen davon gesehen, so Tineke Strik von den niederländischen Grünen, die den Bericht mitverfasste, am Donnerstag in einem Pressegespräch. Es habe sich um eine „wirklich gefährliche Situation für diese Menschen gehandelt“.

Frontex habe „es verabsäumt, diese Verstöße unverzüglich, wachsam und wirksam zu behandeln und weiterzuverfolgen. Infolgedessen habe Frontex weder diese Verstöße verhindert noch das Risiko künftiger Grundrechtsverletzungen verringert“. Zudem seien interne Berichte ebenso ignoriert worden wie Empfehlungen der eigenen Grundrechtsbeauftragten. Der Fall habe einen schnellen Abschluss gefunden, so Strik. „Dieses Muster haben wir oft gesehen bei unseren Untersuchungen.“

Chef im Fokus

Das Dokument ist das Resultat von monatelangen Untersuchungen, um Informationen oder gar Beweise zu sammeln, die Frontex entweder be- oder entlasten könnten. Dafür wurde mit Frontex selbst, dem Europäischen Bürgerbeauftragten und der Europäischen Kommission kooperiert. Heraus kam, dass Frontex selbst keine Grundrechtsverletzungen nachgewiesen wurden, doch habe die Agentur weggesehen.

Frontex-Direktor Fabrice Leggeri
Reuters/Francois Lenoir
Frontex-Chef Fabrice Leggeri

Ein schlechtes Zeugnis stellt der Bericht auch Frontex-Chef Fabrice Leggeri aus. Dieser habe „einen Mangel an Kooperationsbereitschaft“ gezeigt, gerade bei Fragen der Menschenrechte. Darüber hinaus habe Leggeri das Parlament lange Zeit nicht angemessen informiert. Der deutsche „Spiegel“ berichtete am Donnerstag, Leggeri habe im Fall eines Pushbacks sogar Informationen löschen lassen.

Die SPÖ-Europaabgeordnete Bettina Vollath, die auch Teil der Arbeitsgruppe war, sagte, Leggeri habe „bis zuletzt versucht zu vertuschen“. Frontex habe unter Leggeris Ägide „Grundrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen wissentlich gebilligt und ist damit seiner rechtlichen Verantwortung zur Verhinderung von Grundrechtsverletzungen an den Grenzen und bei der Seenotrettung nicht nachgekommen“.

Rechtswidrig, aber häufig

Diese Vorwürfe gibt es aber auch gegen etliche andere Länder. Humanitäre Organisationen, der Europarat und das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) hatten diese völkerrechtswidrige, aber gängige Praxis immer wieder scharf kritisiert. Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie EU-Recht verpflichten die Mitgliedsländer, Menschen das Recht auf ein Asylverfahren zu garantieren und den Grundsatz des „Non-Refoulement“ (Menschen, die vor schweren Menschenrechtsverletzungen fliehen, nicht zurückzuweisen) einzuhalten – selbst wenn sie irregulär einreisen.

Grenzbehörden müssen also immer eine individuelle Prüfung des Schutzbedarfs vornehmen, wenn die eingereiste Person um Asyl ansuchen möchte. Die Ausnahme: Wurde die Person bereits in einem anderen EU-Staat registriert, kann sie dorthin zurückgeschoben werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) urteilte allerdings im vorigen Jahr auch, dass Pushbacks an der EU-Außengrenze unter gewissen Umständen erlaubt sein können.

Ohnmächtig gegen Migration

Griechenland verteidigte wiederholt seinen Umgang mit Geflüchteten auf See. Pushbacks seien notwendig, zudem sei die Türkei ein sicheres Drittland. Man könne illegale Migration nicht tolerieren.

Frontex

Die Agentur mit Sitz in Warschau ist für Grenzschutzfragen zuständig, auch wenn das weiter hauptsächlich nationale Aufgabe ist. Frontex unterstützt Mitgliedsländer mit technischer Ausrüstung und Personal. Die Agentur erstellt Risikoanalysen und koordiniert Einsätze und Rückführungsaktionen.

Derzeit entspannt sich die Lage in den Auffanglagern im Osten der Ägäis, etwa 7.000 Menschen sind dort untergebracht. Doch zu Hochzeiten platzten die Lager dort aus allen Nähten, im April 2020 lag die Zahl etwa bei gut 40.000.

Griechenland wurde mit der großen Menge an Menschen, die über das Meer einen Weg nach Europa suchen, relativ allein gelassen. Die Zustände in den Lagern waren katastrophal. Inzwischen bringt das Land derzeit all jene Geflüchteten auf das Festland, die höchstwahrscheinlich Asyl erhalten. Zudem verschärfte Athen die Überwachung der Seegrenzen, was zu den zahlreichen Vorwürfen der Pushbacks führte.

Empfehlungen mitgegeben

Die Arbeitsgruppe des EU-Parlaments rief Frontex in ihrem Bericht zu mehr Transparenz und zu Einbindung von Grundrechtsbeauftragten auf. Es müssten eine „Struktur und Kultur der Zusammenarbeit zwischen Frontex und dem Mitgliedsstaat, die sowohl ein wirksames Grenzmanagement als auch die Überwachung der Einhaltung der Grundrechte unter uneingeschränkter Achtung des nationalen, EU- und internationalen Rechts ermöglicht“, aufgebaut werden. Außerdem müsse ein transparenter Berichtsmechanismus etabliert werden, und zwar unabhängig davon, wer die jeweilige Operation finanziert.

Den Rücktritt Leggeris empfiehlt der Bericht nicht ausdrücklich. Das sei nicht Sache der Arbeitsgruppe. Die Rücktrittsaufrufe gegen Leggeri würden aber freilich noch lauter werden als bisher, so Strik.

Ideologischer Graben

Diese kamen prompt von den Grünen. Die Delegationsleiterin der österreichischen Fraktion, Monika Vana, forderte einen Austausch der Frontex-Führungsebene. „Jahrelang hat die Frontex-Führungsetage von Pushbacks und anderen Grundrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen gewusst und keine wirksamen Gegenmaßnahmen ergriffen“, kritisierte Vana.

Anders sah das die EVP, Lena Düpont, innenpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament, sagte am Donnerstag in einer Aussendung, es hätten keine der Vorwürfe von Grundrechtsverletzungen festgestellt werden können. Sie sah eine „öffentlich aufgeheizte und vom linken Spektrum befeuerte Debatte“ und erinnerte an die Unschuldsvermutung, wenngleich auch sie „Verbesserungsbedarf“ konstatierte. Frontex spiele „eine Schlüsselrolle für unsere europäische Sicherheitsarchitektur“ und den Schutz der Außengrenzen.

Leggeri will prüfen

Frontex selbst begrüßte am Donnerstag den Bericht der Parlamentsgruppe. Dieser habe bestätigt, dass es keine Beweise für die Involvierung der Agentur in Menschenrechtsverletzungen gebe. „Ich erkenne die Schlussfolgerung der Untersuchung des Parlaments und seine Empfehlungen an. Frontex ist eine größere und komplexere Organisation als noch vor einigen Jahren, sodass ein System, das in der Vergangenheit entwickelt wurde, einer weiteren Transformation unterzogen werden muss“, so Leggeri.

„Wir sind entschlossen, die höchsten Standards der Grenzkontrolle innerhalb unserer Operationen einzuhalten. Wir werden die Empfehlungen prüfen und sehen, wie wir sie umsetzen können, um die Achtung der Grundrechte bei all unseren Aktivitäten weiter zu stärken.“