Bereits 2004 hatte die mittlerweile 70-jährige französische Choreografin Maguy Marin ihr Stück „Umwelt“ kreiert. Die Uraufführung sorgte damals für heftige Reaktionen, ein Zuseher unterbrach sogar die Vorstellung. Auf der Bühne kam es zur Auseinandersetzung mit Marin, die in einem Gerangel endete, bei dem ihr ein Arm gebrochen wurde. Auch die damalige Presse reagierte höchst kontrovers auf Marins prognostizierte Apokalypse.
Nun bläst auf der Bühne des Volkstheaters heftiger Wind, im Geräuschwirbel klammern sich die Performerinnen und Performer an ihr bisheriges „normales“ Leben, doch der Sturm weht ohne Unterlass und legt die Nerven blank.
Essensreste auf der Vorderbühne
Marin zeigt neun Tänzerinnen und Tänzer in einer kühlen Bühnenlandschaft aus circa 50 biegsamen, im Bühnenwind zitternden Spiegeln. Sie zeigen Blitzlichter aus dem Alltagsleben: Synchron beißen sie in einen Apfel, eine Stelze, einen Burger, die Reste werfen sie kaltschnäuzig auf die Vorderbühne. Sie drehen sich nackt und dann wieder verschleiert durch die Spiegelreihen, schaukeln Puppen, küssen und schlagen sich.
Über ihr Körperspiel fächert sich ein Kaleidoskop unserer Gesellschaft auf: Sie sind Mütter, Väter, Touristen, Einsame, Liebespaare, Arbeiter oder Gefangene, die aggressiv und gedankenlos agieren, die aneinander vorbeigehen, die sich wegstoßen, um sich dann wieder zu umarmen, die einmal erscheinen und dann wieder hinter den Spiegeln verschwinden.
Immer wieder setzen sich die Akteure eine Krone auf, um sie sogleich wieder abzunehmen, womit Marin ganz explizit auf die Frage referiert: Ist der Mensch wirklich die Krone der Schöpfung? Welche Konsequenzen hat es, dass er sich die Erde untertan gemacht und sich zum Herrscher über die Welt erklärt hat?
Goldener Löwe 2016
Die 1951 als Kind spanischer Einwanderer in Toulouse geborene und aufgewachsene Choreografin Marin, die für ihre konsequente und innovative Arbeit unter anderem 2016 mit dem Goldenen Löwen der Tanzbiennale von Venedig ausgezeichnet wurde, wählte für ihre Performance bewusst den deutschen Titel. Das Bedeutungsspektrum im Deutschen sei größer, wird im Programmheft ausgeführt. Weil nicht nur Klimaschutz, sondern ganz grundlegende Fragen unserer Gesellschaft zur Disposition stünden.
„Alles wird aggressiver, und die Pandemie hat das solidarische Verständnis auch nicht unbedingt verbessert“, meinte der ImPulsTanz-Intendant Regensburger dazu im Vorabgespräch mit ORF.at. Die Bedeutung der Performance „Umwelt“ könne man gar nicht hoch genug einschätzen, so Regensburger zu dem Stück, das bereits 2006 und 2009 beim Festival zu sehen war.
Zuschauer explizit mitgemeint
In den poetischen Miniaturszenen, die geradezu filmisch vorbeirasen, zeigt Marin die Entwicklung einer Gesellschaft, die in erster Linie an der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse interessiert ist. Kaltschnäuzig werfen etwa Männer Frauen auf die Bühne und ziehen sie – empört, weil sie nicht mehr von selbst aufstehen – an den Füßen hinter die Spiegel. Derweil sammeln sich Requisiten – Essensreste, Puppen, Kleidung und Schutt – zu einem Trümmerhaufen, der auch auf die menschlichen Beschädigungen verweist.
Der kluge Kniff von Marins Aufführung ist dabei, dass sich in den Spiegeln nicht nur Bilder der Darsteller und Darstellerinnen multiplizieren, sondern auch Fragmente aus dem Publikum sichtbar werden: Die Performance zeigt so, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer hier explizit mitgemeint sind – als Teil eines Systems, das gerne an allem Bekannten und Bequemen festhält, während der Wind Hab und Gut, Mitgefühl und Haltung davonbläst.
Dröhnender Sound der E-Gitarren
Für viel Eindringlichkeit sorgt auch der aggressive Sound (Musikdesign: Denis Mariotte) von drei E-Gitarren, die an der Bühnenrampe liegen und deren Saiten mittels eines „ferngesteuerten“ Seils zum Klingen kommen. Und der Rhythmus wird beschleunigt: Am Ende des 60-minütigen Abends herrscht ein beinahe unerträgliches Dröhnen vor, das mit brutaler werdendem Verhalten der Performerinnen und Performer korreliert. Unerbittlich muss alles immer schneller werden, doch welchen Preis hat das Diktat der Geschwindigkeit und des Wirtschaftswachstums?
In „Umwelt“ spiegelt sich zugleich Marins Auseinandersetzung mit Samuel Beckett und Spinoza wider. „Das Mögliche erschaffen, indem man es ausführt“, schreibt die Choreografin im Programmheft über ihre künstlerische Arbeit. Mit radikalen, schnörkellosen und präzisen Bildern appelliert sie an die Vernunft, ohne gefällig zu werden, und zeigt so ein Stück als Herausforderung, hier und jetzt Position zu beziehen und nicht auf die nachfolgenden Generationen zu verweisen. Was auch 17 Jahre nach der Uraufführung mindestens so verstörend wie beeindruckend ist.