Gebäude in Brüssel
ORF.at/Caecilia Smekal
Neue „Brüsselisierung“

Der ewige Kampf der Städter um Mitsprache

Der Konflikt zwischen Projektentwicklern und unzufriedenen Anrainerinnen und Anrainern ist jeder Großstadt bekannt, so auch in Wien derzeit im Streit um den Naschmarkt. In Brüssel hat die Auseinandersetzung lange Tradition und auch besondere Ausmaße angenommen – kein Wunder, ist die „Brüsselisierung“ doch zum Schmähwort für eine Planung mit der Abrissbirne geworden. Auch heute steht die Stadt wieder vor großen Umbrüchen – samt Protesten dagegen.

Brüssel ist – mehr noch als Wien – die Stadt des Jugendstils. Malerische schmale Wohnhäuser mit filigranen Verzierungen, eingelassenen Kaminen und bunten Art-Deco-Fenstern. Auch der 37-jährige Cedric bewohnt ein derart herrschaftliches Domizil im Herzen des Europaviertels. Cedric und viele seiner Nachbarinnen und Nachbarn wehren sich gegen den Umbau ihrer Straße, dem Boulevard Clovis, der Teil eines Jugendstil-Ensembles im Viertel ist.

Nach einem Wasserrohrbruch beim Bahntunnel unter dem Boulevard vor vier Jahren nahm der Konflikt zwischen Anrainerinnen und Anrainern seinen Ursprung. Damals wurde der Tunnel inspiziert und eine Sanierung und neue Notausgänge beschlossen. Die Stadt nahm die Arbeiten zum Anlass, den gesamten Boulevard umzugestalten.

„Eine Katastrophe“

Die Straße ist gesäumt von Jugendstilbauten aus Backstein und ist, typisch für Brüssel, durchbrochen von wenigen Neubauten, die überhaupt nicht ins Bild passen. Gehwege und Fahrbahn bestanden aus historischem Natursteinpflaster, ein Markenzeichen der Stadt. Davon ist nach vier Jahren Bauzeit von Infrabel, der belgischen Bahngesellschaft, nicht mehr viel übrig.

Gebäude in Brüssel
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Der Boulevard Clovis: Die Anrainer gehen gegen den Umbau auf die Barrikaden

Künftig soll der Boulevard eine asphaltierte Fahrbahn, zwei neue Radwege und mittig einen Gehweg mit großen loungeartigen Sitznischen aus Beton, haben. Zudem will die Stadt 33 neue Bäume pflanzen. Gegen den Plan laufen die Menschen, die in der Umgebung wohnen, Sturm.

„Es ist gut, dass der Tunnel instand gesetzt wurde, dagegen hat niemand etwas. Die Umgestaltung der Straße, die mit dem Tunnel gar nichts zu tun hat, ist aber eine Katastrophe“, so die 72-jährige Miriam, die seit 33 Jahren hier wohnt, zu ORF.at. Gemeinsam mit Cedric und anderen formierte sie Widerstand gegen die Planungen. Sie investieren einen großen Teil der Freizeit dafür. In vielen Fenstern und Auslagen in der Nähe prangen Plakate und Zettel, um Protest gegen den Umbau zu äußern.

Verhärtete Front

Ihre Kritik richtet sich gegen mehrere Aspekte. Es würden zwar Bäume gepflanzt, in Summe werde es aber um die Hälfte weniger Grünfläche geben. Dafür würde sich der Anteil an Asphalt verdreifachen – „eine Hitzeinsel mitten im Klimanotstand“, sagt Cedric. „Der ganze Aufbau ist für eine Wohngegend komplett ungeeignet und wird Ärger hervorrufen“. Die Bauweise fördere ein Echo, so sein Argument. „Es wird nur eine kleine Gruppe von Menschen brauchen, um die ganze Straße wachzuhalten“. Die Kritik richtet sich auch dagegen, dass der Umbau nicht ins Straßenbild passe. Das Viertel sei in den 1870er Jahren als harmonisches Ensemble geplant worden. Der Beton und Asphalt, die gesamte Optik sind den Anwohnenden ein Dorn im Auge. „Das zeigt eine große Ignoranz gegenüber dem historischen Erbe. Der Boulevard Clovis ist einer der letzten seiner Art“, so Cedric.

„Brüsselisierung“ im Kleinen und Großen

Die Gruppe gestaltete einen eigenen Entwurf, in dem sowohl Rad- und Fußgängerwege als auch Bänke zum Verweilen Platz hätten, bei dem aber die alten Materialien wieder verbaut werden könnten. Doch die Stadt habe ihre Ansuchen um Mitsprache ignoriert. Man habe Mails geschickt und eine Petition gestartet, sich sogar an die Presse gewandt. Die Planungen seien aber schon ein Jahr gelaufen, bevor irgendjemand informiert worden sei. Die Nachbarschaft sei schließlich vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Auch das sei eine Form der „Brüsselisierung“, einer radikalen Planung ohne Mitsprache.

Victor Horta (1861–1947)

Victor Horta ca. 1900
Public Domain

Nur wenige Städte könnten Wien den Rang als Hauptstadt des Jugendstil ablaufen – und wenn, dann Brüssel. Dafür hauptverantwortlich war Victor Horta, der schon 1892 das als erstes Art-Nouveau-Gebäude geltende Hotel Tassel baute. Otto Wagner und andere ließen sich von Horta inspirieren. Auch Ikonen seiner Architektur, wie die Maison du Peuple, fielen der „Brüsselisierung“ zum Opfer.

Dass ausgerechnet die belgische Hauptstadt Namensgeber für den architektonischen Negativbegriff „Brüsselisierung“ ist, kommt nicht von ungefähr. Ab den 1950er Jahren wurde hier mit der Abrissbirne geplant. Jugendstil-Juwele des Architekten Victor Horta, historische Nachbarschaften, öffentlicher Raum – all das wurde ohne Rücksicht auf Verlust dem Erdboden gleichgemacht, um Platz zu machen für Hochhäuser und Bürokomplexe. Nicht nur weil die Stadt wuchs, vor allem weil zahlreiche internationale Institutionen wie NATO und EU hier ihre Zelte aufschlugen.

Die Umkehr der Stadt

Auch der Kampf gegen die „Brüsselisierung“ hat lange Tradition, das Bewusstsein in der Bevölkerung für das historische Erbe der Architektur ist groß. Kleine und große Konflikte wurden ausgetragen, und immer wieder musste sich die Stadt auch dem Willen der Bürgerinnen und Bürger beugen, etwa im Stadtviertel Marolle. Hier sollte 1969 der ohnehin überdimensionierte und unbeliebte Justizpalast erweitert und dafür drei Häuserblocks geschleift werden – per Enteignung. Die Folge war eine Revolte unter Führung des Priesters Jacques van der Biest. Am Ende gaben Projektentwickler und Stadt in der zum Schlagwort gewordenen „Schlacht der Marollen“ klein bei. Statt abzureißen wurde renoviert und erhalten.

Eine ähnliche Hoffnung hat auch die Protestgruppe vom Boulevard Clovis. Sie holte sich Unterstützung vom Verein ARAU, der in Brüssel schon viele Kämpfe dieser Art geschlagen hat – manchmal mit Erfolg, manchmal nicht. Seit 1969 arbeitet ARAU, das Atelier de Recherche et d’Action Urbaines, gegen stadtplanerische Kahlschläge in Brüssel an. „Wir sind im Kontext der ‚Brüsselisierung‘ entstanden“, so die Vereinsvorständin Marion Alecian zu ORF.at.

„Unser Ziel ist es, den Stimmen der Anrainer Gehör zu verschaffen und sie in die Planung miteinzubeziehen.“ ARAU erstellt etwa Studien zum Einfluss von Bauprojekten und veranstaltet Führungen in historischen Vierteln der Stadt. „Immer wieder noch werden auch heute noch riesige, hässliche Gebäude geplant. Wir wollen dieser Zerstörung mit Argumenten und Diskurs begegnen“.

Mehrere Gebäude in Brüssel.
ORF.at/Caecilia Smekal
Die „Brüsselisierung“: Moderne Großbauten dominieren vor allem im Europaviertel, während alte Hochhäuser optisch fast verschwinden

Kopfstein des Anstoßes

Die Möglichkeiten zur Mitsprache seien heute besser als noch in den 1960er Jahren, aber keineswegs perfekt, so ARAU-Präsidentin Aleciau. „Es ist nach wie vor schwer durchzudringen bei großen urbanen Bauprojekten. Und die ‚Brüsselisierung‘ hat nicht angehalten. Immer noch werden viele alte Häuser zerstört.“ Architektinnen und Planern seien sich oft des historischen Erbes nicht bewusst. „Zum Beispiel das Kopfsteinpflaster. Viele Projekte lassen sie verschwinden, dabei sind sie ein wichtiger Teil der Brüsseler Identität. Wir wollen einfach Bewusstsein schaffen.“

Auch im Fall des Boulevard Clovis erstellte ARAU eine Studie, die mit den Planungen der Stadt hart ins Gericht geht. „Man hat die Nachbarschaft nicht eingebunden, die Kriterien der Stadt sind auch nicht transparent. Vom historischen Blickwinkel aus ist es ein sehr schlechtes Projekt, rein auf die Funktionalität fokussiert. Dabei kann man das auch kombinieren“, so Aleciau.

Öffentlicher Raum – für alle

Dem widerspricht die Stadt vehement. Die zuständige Stadträtin Ans Persoons von den Sozialdemokraten sagt im Gespräch mit ORF.at, man habe aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Inzwischen sei jede Veränderung an historischer Bausubstanz strengen Regeln unterworfen. Gebäude von geschichtlichem oder und patrimoniellem Wert stünden auf einer Schutzliste, um das „Trauma Brüsselisierung“ nicht zu wiederholen, so Persoons.

„Auch wir haben zum Boulevard Clovis eine Studie erstellt, wie die historischen Materialien wiederverwendet werden können und gleichzeitig der öffentliche Raum ökologisch sinnvoll für alle geöffnet werden kann.“ Radfahrer und Fußgängerinnen seien künftig sicherer unterwegs, es gebe Gelegenheit für Kinder zu spielen und für körperlich Beeinträchtigte, den Boulevard zu nutzen, ohne über Kopfsteinpflaster zu fallen. „Bisher gab es dort viel Verkehr, viel Lärm wegen des Pflasters und viele Parkplätze.“

Persoons räumt auch Fehler ein bei der Planung für den Boulevard. So sei man etwa aus Zeitdruck an die Anrainerinnen und Anrainer herangetreten, als die erste Planungsphase schon im Laufen war – anders als üblich. Das habe viel Unmut erzeugt. Man habe aber auch Zugeständnisse gemacht, die Anzahl der Bänke reduziert und den Bodenbelag geändert. Statt des ursprünglich geplanten polierten Betons, der Barrierefreiheit und einen guten Wasserabfluss gewährleistet hätte, werde man nun wohl Pave verwenden, ein Belag, der besser ins historische Bild passe. „Außerdem hat es sehr viele Treffen mit der Nachbarschaft gegeben, die Menschen wurden eingebunden.“

Stadt muss viele Interessen unter einen Hut bringen

Neuerungen im öffentlichen Raum zögen immer harte Debatten nach sich. Interessengruppen übten Druck aus, man müsse bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer ebenso wie Umweltaspekte berücksichtigen. Bäume seien nicht überall einsetzbar, sollten aber gepflanzt werden, wo irgend möglich. Man müsse die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer gewährleisten und grüne Mobilität ermöglichen. Die Nachbarschaft wiederum kämpfe gegen Veränderungen, gegen den Verlust von Parkplätzen, und auch dagegen, dass Fremde in die Gegend kommen und dort Freizeit verbringen. Das alles sei verständlich, aber nicht alles unter einen Hut zu bringen. „Das sind schmerzhafte Debatten, aber es müssen Entscheidungen getroffen werden.“

Umwälzungen voraus

Und die Stadt erwarten in naher Zukunft noch große Veränderungen. Allein im Zentrum werden in den nächsten Jahren drei Viertel umgeplant und neu gestaltet. Areale, in denen bisher hauptsächlich Verwaltungsgebäude stehen, sollen Wohngegenden werden, mit öffentlichem Raum, Grünflächen und Lebensqualität. Der unteriridisch verlaufende Fluss Senne soll teilweise zurück an die Oberfläche kommen und die Stadt gegen Überschwemmungen besser gewappnet werden. Alle Veränderungen sollen laut Stadträtin Persoons dem Klimaschutz Rechnung tragen und einem Konzept folgen: „Die Stadt in zehn Minuten.“ In kürzester Zeit soll es allen möglich sein, die wichtigsten Einrichtungen zu Fuß zu erreichen.

Etwas weiter westlich im Bezirk Anderlecht, traditionell stark von der Arbeiterschicht und Migrantinnen und Migranten bewohnt, wird hingegen in großem Stil gentrifiziert. Entlang des Kanals Bruxelles-Charleroi entstehen Ausgeh- und Unterhaltungsstätten ähnlich wie am Wiener Donaukanal. Im heurigen Sommer eröffnete hier ein Pop-up-Pool, eine kleine Sensation in Brüssel, das kein Freibad hat. In der Nachbarschaft stoßen die Pläne dennoch nicht nur auf Gegenliebe. Man fürchtet, dass die Gegend durch die Aufwertung bald nicht mehr für die angestammte Bevölkerung leistbar sein wird und Immobilienspekulanten anzieht. „Da müssen wir tatsächlich sehr aufpassen“, so Alecian von ARAU.

Warten auf den Startschuss

Was den Boulevard Clovis angeht, sieht Alecian die Schlacht verloren. „Ich befürchte das Schlimmste. Unsere Stimmen wurden nicht gehört, es ist eine Schande.“ Derzeit wartet die Stadt nur mehr auf die Genehmigung der Region, um mit dem Umbau zu beginnen. Die Baufirma steht bereit. Wann der Startschuss tatsächlich fällt, wissen derzeit aber weder die Stadträtin noch die Anwohnenden. „Am Ende wird es einen Kompromiss geben“, hofft Persoons. Miriam und Cedric sind aber weiterhin kämpferisch. „Wir hoffen noch auf eine Lösung, die uns entgegenkommt“, so Cedric. „Wenn nicht, müssen wir vor Gericht ziehen. Das wollen wir nicht, es ist aber die letzte Möglichkeit.“