Spaziergänger an der Themse mit Tower Bridge im Hintergrund
Reuters/Henry Nicholls
Coronavirus

Großbritanniens Tanz mit der Delta-Variante

In Großbritannien macht sich immer mehr Normalität breit: Nach England und Wales hat am Montag auch Schottland fast alle Coronavirus-Regeln aufgehoben. Dass sich die Lage im Land trotz der Delta-Variante und nach wie vor hoher Infektionszahlen entspannt, hängt vor allem auch mit der hohen Impfquote zusammen.

Ein Blick auf die Coronavirus-Infektionszahlen würde eigentlich kaum Entspannung vermuten lassen: Über 27.400 neue Fälle wurden in dem 67-Millionen-Einwohner-Land am Sonntag gemeldet. Am vergangenen Donnerstag wurden nach einem tagelangen Rückgang – die Fälle pendelten sich bei um die 20.000 täglich ein – auch erstmals wieder mehr als 30.000 Neuinfektionen verzeichnet. Die Delta-Welle flacht zwar ab, überstanden ist sie aber nicht.

Der zwischenzeitliche Rückgang der Zahlen überraschte, weil in England am 19. Juli fast alle Beschränkungen aufgehoben worden waren. Nachtclubs öffneten wieder, die Maskenpflicht wurde vielerorts abgeschafft. Indes verdrängte die als besonders ansteckend geltende Delta-Variante alle anderen Mutanten und macht nun 100 Prozent der Fälle aus. Ob der aktuelle Anstieg nun eine Trendwende einleitet, ist noch unklar. Fachleute zeigten sich zuletzt aber optimistisch. Überdies fiel die Reproduktionszahl in England in der Vorwoche auf 0,8 bis 1,1. Die R-Zahl zeigt an, wie viele weitere Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt.

Flachere Kurve bei Hospitalisierungen

Was die jüngsten Daten aus Großbritannien aber auch zeigen, ist, dass die Zahl der Hospitalisierungen, aber auch die gemeldeten Todesfälle im Zusammenhang mit dem Virus trotz hoher Infektionszahlen in den letzten Monaten deutlich weniger stark ansteigen als bei den Wellen davor. Besonders deutlich geht das aus einer Analyse des „Guardian“, der die CoV-Wellen in Großbritannien laufend miteinander vergleicht, hervor. In Großbritannien wurden bisher drei Wellen gezählt – die zweite dauerte von Herbst bis Frühjahr 2021. Die dritte setzte Mitte Mai ein.

Großbritannien dient im internationalen Vergleich als gutes Beispiel, weil sich die Delta-Variante dort schon länger verbreitet – und Daten zu Hospitalisierungen und Belegungen der Intensivstationen, die sich immer erst zeitverzögert niederschlagen, damit aussagekräftiger sind. Zudem zählt Großbritannien weiterhin zu den weltweiten Impfvorreitern. Rund 59 Prozent der britischen Bevölkerung ist bisher vollständig geimpft, 70,4 Prozent gelten als teilgeimpft. Dazu kommen mehrere Millionen Genesene.

Grafik zu CoV-Wellen in Großbritannien
Grafik: ORF.at; Quelle: theguardian.com

Laut Analysen von Blutspenden dürften sogar rund 16 Prozent der Erwachsenen Antikörper durch eine Infektion haben, heißt es in einem Bericht von Public Health England (PHE). Durch eine Infektion oder die Impfung sollten insgesamt mehr als 96 Prozent der Erwachsenen Antikörper haben.

Forscher: Ungeimpfte stecken sich dreimal häufiger an

Dass die Delta-Variante weniger gefährlich ist, lässt sich aus den niedrigen Hospitalisierungen und geringeren Todesfällen aber nicht schließen. Vielmehr dürfte das ein Effekt der hohen Impfquote im Land sein. PHE hält mit Verweis auf diverse Studien etwa fest, dass sich Geimpfte signifikant seltener anstecken. Außerdem können schwere Erkrankungen und Todesfälle durch die Impfung stark unterbunden werden.

Zu einem ähnlichen Schluss kam eine Untersuchung des Imperial College London. In den noch nicht von Fachleuten begutachteten Ergebnissen wurden 1,2 Prozent von 100.000 Probanden in England positiv auf das Virus getestet, während es unter den vollständig Geimpften nur 0,4 Prozent waren. Ungeimpfte Menschen haben also ein dreimal so hohes Risiko, sich mit CoV zu infizieren, als vollständig Geimpfte. Die Forscher fanden auch Anzeichen dafür, dass geimpfte Infizierte seltener andere Menschen anstecken, da ihre Viruslast geringer sein könnte. 100 Prozent der in der Studie analysierten Proben waren Fälle der Delta-Variante.

Wirksamkeit der Impfungen

Die Wirksamkeit eines Impfstoffes wird durch das Verhältnis von geimpften zu nicht geimpften Infizierten definiert. Vereinfacht gesagt: Wenn von zehn Infizierten einer geimpft war, ergibt sich eine Wirksamkeit von 90 Prozent. Das heißt aber nicht, dass sich von zehn Geimpften durchschnittlich einer infiziert.

PHE verglich zudem erste Daten zur Delta-Variante mit jenen der Alpha-Variante (die weniger ansteckend als Delta, aber deutlich ansteckender als der Wildtyp ist): Demnach nahm die je nach Vakzin variierende Wirksamkeit gegen eine Infektion bei einer Teilimpfung generell um 14 Prozent (von 49 auf 35) ab, bei einer Vollimmunisierung nahm die Wirksamkeit um zehn Prozent (von 89 auf 79 Prozent) ab. Die Wirksamkeit der Impfungen gegen Hospitalisierungen lag bei den Varianten aber auf ähnlich hohem Niveau.

Junge als Faktor

Ein weiterer Grund für die Entspannung in den Spitälern dürfte sein, dass sich die Delta-Variante des Coronavirus insbesondere in den jüngeren Bevölkerungsgruppen ausbreitet. Diese erkranken einerseits seltener und weniger schwer und weisen andererseits eine noch relativ niedrige Impfquote auf. In Großbritannien sind etwas über 20 Prozent der 18- bis 24-Jährigen vollständig geimpft – auch bei den 25- bis 29-Jährigen wurde die 30er-Marke noch nicht geknackt. Die Jungen machen damit auch die meisten Neuinfektionen aus, „Impfdurchbrüche“ – also eine Erkrankung trotz Vollimmunisierung – gelten hingegen als sehr selten.

Schottland streicht fast alle Regeln

Mit Spannung wird nun jedenfalls auch beobachtet, wie sich die jüngsten Öffnungen in Schottland auf das Infektionsgeschehen auswirken werden: Seit Montag sind – mit wenigen Ausnahmen – die Abstandsregeln aufgehoben. Für Pubs und Restaurants sowie Veranstaltungen gelten keine Kapazitätsgrenzen mehr. Nachtclubs dürfen öffnen. In Behörden sowie in öffentlichen Verkehrsmitteln müssen allerdings weiterhin Masken getragen werden. Auch in Schulen gilt zunächst noch Maskenpflicht. Allerdings muss bei einem CoV-Fall nicht mehr die gesamte Klasse nach Hause in Isolation.

Bereits seit Samstag sind auch in Wales so gut wie alle Coronavirus-Maßnahmen bis auf die Maskenpflicht beendet. Am schärfsten sind die Regeln noch in der Provinz Nordirland. Hier will die Regierung in wenigen Tagen entscheiden, ob gelockert wird. Nordirland galt zuletzt aber auch als Großbritanniens Coronavirus-Hotspot.

Fachleute vorsichtig optimistisch

Einige Fachleute gaben sich unterdessen optimistisch, dass ein weiterer Lockdown in Großbritannien nicht mehr notwendig sein wird. Professor John Edmunds von der unabhängigen Beratergruppe Sage sagte in einem Radio-Times-Interview vom Samstag, dass er „vorsichtig optimistisch“ sei, dass ein weiterer Lockdown nicht mehr notwendig sein wird.

Ähnlich die Einschätzung von Francois Balloux, Direktor des Genetikinstituts am University College, London. Balloux rechnet im BBC-Interview zwar mit „einigen wenigen Ausbrüchen“ in Europa im Winter, er sei aber „ziemlich zuversichtlich“, dass die Pandemiephase in Ländern mit hoher Impfquote – wie Großbritannien – bis Frühling vorüber sein wird und das Virus dann endemisch wird. Lauren Ancel Meyers, Vorsitzende des Covid-19-Modellierungkonsortiums der University of Texas mahnte angesichts möglicher neuer Varianten, gegen die die Impfungen weniger effektiv sein könnten, jedoch weiter zur Vorsicht.