Der Großteil der Binnenflüchtlinge floh laut den Angaben von Montag aus Provinzen im Nordosten und Osten vor bewaffneten Kämpfen. Insgesamt leben in Afghanistan etwa 37 Millionen Menschen. Auch die Zahlen der Todesopfer und Verletzten in der Zivilbevölkerung stiegen deutlich.
Die UNO warnte, dass 2021 zum Jahr mit der höchsten Zahl an zivilen Opfern werden könnte. Sie rief eindringlich zum Schutz der Bevölkerung auf und zeigte sich „extrem besorgt“. Das UNO-Kinderhilfswerk (UNICEF) verwies darauf, dass in den afghanischen Provinzen Kandahar, Khost und Pakria allein in den letzten drei Tagen 27 Kinder getötet und über 130 weitere verletzt wurden. „Die Gräueltaten werden von Tag zu Tag schlimmer“, so der für Afghanistan zuständige UNICEF-Repräsentant Herve Ludovic de Lys.

Taliban erobern sechste Provinzhauptstadt
Die radikalislamischen Taliban setzen ihre Offensive indes ungebremst fort. Wie am Montag bekanntwurde, übernahmen sie zuletzt die Kontrolle in Aybak in der Provinz Samangan im Norden des Landes. Damit eroberten die Dschihadisten binnen weniger Tage die sechste von 34 Provinzhauptstädten.
Taliban auf dem Vormarsch
Die radikalislamischen Taliban nehmen weitere Gegenden in Afghanistan ein. Die afghanische Botschafterin in Österreich hatte zuletzt gebeten, Abschiebungen in ihr Land vorübergehend auszusetzen.
Die Islamisten hätten die wichtigsten Einrichtungen der Stadt eingenommen. Laut Angaben einer Provinzrätin gegenüber der dpa sollen die Sicherheitskräfte die Stadt kampflos verlassen haben, nachdem das Verteidigungsministerium nicht auf einen Ruf nach Luftangriffen reagiert habe.
Kunduz-Einnahme möglicher Wendepunkt
Zuvor hatten die Taliban die strategische wichtige Stadt Kunduz erobert. Das gilt als bisher größter Erfolg für die Taliban. Kunduz sei „nach heftigen Kämpfen“ in ihrer Hand, hieß es von den Islamisten am Sonntag. Abgeordnete und Bewohner sowie Bewohnerinnen bestätigten die Einnahme. In der Nähe von Kunduz waren jahrelang internationale Truppen stationiert gewesen. Am selben Tag nahmen die Taliban Sar-e Pol sowie Taloqan ein.

In Kunduz starteten die afghanischen Kommandoeinheiten indes einen Gegenangriff zur Rückeroberung. Ziel sei es, die Taliban aus der Provinzhauptstadt zu vertreiben, sagte ein Vertreter der Sicherheitskräfte. Zahlreiche Familien, darunter kleine Kinder und Schwangere, flohen vor der Gewalt aus der im Norden gelegenen Stadt.
Viele der Menschen, die vor der Gewalt flohen, wollten in die mehr als 300 Kilometer entfernte Hauptstadt Kabul gelangen. Dort wiederum brachten mutmaßliche Extremisten am Sonntag nach Angaben von Behördenvertretern gezielt den Leiter eines Radiosenders um. In der südlichen Provinz Helmand sei zudem ein Lokaljournalist von den Taliban entführt worden.
Heftige Kämpfe auch in anderen Landesteilen
Auch aus anderen Landesteilen wurden teils heftige Kämpfe gemeldet. Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im Mai haben die Taliban bereits weite Teile des Landes erobert. Erst konnten sie vor allem im ländlichen Raum große Gebietsgewinne verzeichnen. Zuletzt verlagerten sich die Kämpfe zunehmend in die Hauptstädte der 34 Provinzen.

Der Vormarsch der Taliban im Norden könnte sich als Wendepunkt im Kampf mit den Regierungsstreitkräften erweisen. Der Norden galt lange als Hochburg des Widerstandes gegen die Islamisten. In der Region gibt es mehrere Milizen, sie ist für die afghanische Armee auch wichtiges Rekrutierungsgebiet. Die Geschwindigkeit, mit der die Islamisten vordringen, hat das afghanische Militär überrumpelt.
Regierung zurückhaltend
Die Regierung in Kabul äußerte sich zunächst nur zurückhaltend zum Fall der Provinzhauptstädte. Sie sagte lediglich, die Armee werde die Städte zurückerobern. Unterstützung erhielt die afghanische Armee am Samstag durch das US-Militär, das von außerhalb des Landes Taliban-Stellungen in Sheberghan bombardierte. Die USA hatten im Frühjahr begonnen, sich aus Afghanistan zurückzuziehen.
Die Taliban hatten Afghanistan von 1996 bis zu ihrem Sturz durch die US-geführten Truppen 2001 beherrscht und die Menschenrechte gravierend eingeschränkt. Nun droht das erneut.