Aufnahme von Talibankämpfern in der Provinz Herat im Jahr 2016
AP/Allauddin Khan
Taliban-Offensive

Neues Kapitel der Unterdrückung

Mit den Offensiven der militant-islamistischen Taliban ist für die afghanische Bevölkerung ein neues blutiges Kapitel angebrochen. Laut UNO wurden im vergangenen Monat mehr als tausend Zivilistinnen und Zivilisten getötet, Hunderttausende befinden sich auf der Flucht, ganze Städte und Dörfer sind zerstört. Ein Ende ist nicht Sicht, zeigen sich Fachleute im Gespräch mit ORF.at überzeugt. Im Gegenteil.

Auf der Landkarte des „Long War Journals“ lässt sich im Zeitraffer beobachten, wie sich immer mehr Teile Afghanistans rot färben. Ein Blick auf die Legende verrät: Rot markiert jene Teile des Landes, die sich unter Kontrolle der Taliban befinden. Mittlerweile ist mehr als die Hälfte des Landes rot gefärbt. Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im Mai erobern sie eine Provinzhauptstadt nach der anderen.

Laut UNO ist der Krieg nun in eine neue, tödlichere und destruktive Phase eingetreten. Berichte würden nahelegen, dass Kriegverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Aus Gebieten, die die Taliban eingenommen hätten, würden Massenhinrichtungen gemeldet sowie Angriffe auf Kliniken, Wohnhäuser und Zivilisten. Frauen dürften laut diesen Berichten ihre Häuser nicht mehr verlassen.

Afghanen passieren bei ihrer Flucht aus Herat afghanische Polizeiposten
AP/Hamed Sarfarazi
Rund eine Viertelmillion Menschen musste laut UNO seit dem Truppenabzug innerhalb des Landes ihre Heimat verlassen – hier passieren Afghanen bei ihrer Flucht aus Herat afghanische Polizeiposten

Abzug als Wendepunkt

Die Situation in Afghanistan habe sich seit dem Abzug „grundlegend geändert“, meint auch der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network im Gespräch mit ORF.at. Das Abkommen der USA mit den Taliban sei ohne konkrete politische Regelung einhergegangen, folglich habe der Truppenabzug der afghanischen Regierung „den Boden unter den Füßen weggezogen“.

Ähnlich die Einschätzung von Gabriele Rasuly-Paleczek, die an der Uni Wien zu Afghanistan forscht. „Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die Situation handzuhaben.“ In der Bevölkerung herrsche dementsprechend eine große Enttäuschung, so die Afghanistan-Expertin gegenüber ORF.at. „Die Bevölkerung ist frustriert über vier Jahrzehnte des Krieges, in denen sich nichts geändert hat.“

Für die Afghanen und Afghaninnen, von der mehr als die Hälfte humanitäre Hilfe benötigen würde, käme neben den ohnehin vorhandenen ökonomischen Schwierigkeiten etwa durch die Coronavirus-Pandemie nun noch die schlechte Sicherheitslage hinzu. Zudem würden internationale Hilfsgelder und Unterstützung fehlen.

Afghanische Sicherheitsmitarbeiter inspezieren die Zerstörung nach den Bombenanschlägen in Kabul Anfang August
APA/AFP/Wakil Kohsar
Anfang August kam es in der Hauptstadt Kabul zu einem Bombenanschlag, bei dem ein Regierungssprecher ermordert wurde

Bruder von Taliban ermordert, Schwester auf der Flucht

Was Krieg bedeutet, weiß auch Familie S. Sie musste aus ihrer Heimat fliehen und lebt nun seit 2015 in Graz. „Mein Vater hatte ein Haus in Ghazni und Kabul. Aber er hat meistens im Kabul gearbeitet, und wir waren im Ghazni. Taliban haben unseren Bruder gekidnappt und unser Haus verbrannt in Ghazni. Deshalb mussten wir nach Kabul flüchten. Das war 2014“, schreibt die Elfjährige Z. in einer Nachricht an ORF.at.

Taliban erobern weitere Gebiete

In Afghanistan sind bereits 18 der 34 Provinzhauptstädte in der Hand der militant-islamistischen Taliban. Nun sind sie nur noch 70 Kilometer von der Hauptstadt Kabul entfernt.

Ihr älterer Bruder wurde jahrelang in Gefangenschaft gehalten, dann von Freunden freigekauft und am 4. Juni 2020 von den Taliban ermordet. Vor Kurzem habe ihre 35-jährige Schwester einen Brief von den Taliban erhalten. In dem geschrieben gewesen sei, dass nun auch sie ermordet werde. Das Verbrechen: Der Familienvater war Leiter eines Unternehmens, das Straßen baute. Die Schwester floh nach Kabul – so wie derzeit Zehntausende andere auch. Doch auch hier befinden sich die Taliban auf dem Vormarsch und stehen bereits kurz vor den Toren der Hauptstadt.

Bevölkerung als Geisel

Kabul ist einer der wenigen verbliebenen Fluchtorte im Land, erklärt Rasuly-Paleczek. Nicht zuletzt deshalb, weil die Taliban mittlerweile auch die Kontrolle über viele Grenzen übernahmen. Auch Ruttig zufolge werde Kabul von vielen als die letzte Bastion betrachtet. Geflüchtete würden mittlerweile auf den Straßen der Hauptstadt campieren. Doch auch hier habe sich die Sicherheitslage aufgrund von gezielten Mordkampagnen und Anschlägen verschärft, erklärt Rutte.

ORF-Analyse der Afghanistan-Situation

ORF-Korrespondentin Inka Pieh und Johannes Marlovits aus der ZIB-Auslandsredaktion schätzen die Lage in Afghanistan ein.

Im Gegensatz zu anderen Kriegen finde dieser nicht auf dem Schlachtfeld, sondern mitten in den Städten und Dörfern statt, so Rasuly-Paleczek. Damit werde die Bevölkerung zur Geisel. Dementsprechend viele zivile Opfer gebe es bei den Angriffen. US-Geheimdienste gehen zudem davon aus, dass auch Kabul fallen werde. Und das früher als gedacht in 30 bis 90 Tagen, wie die „Washington Post“ („WP“) berichtete.

Grafik zum Vormarsch der Taliban in Afghanistan
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: longwarjournal.org

„Scherbenhaufen“

US-Präsident Joe Biden hielt zwar am Abzug fest, erneuerte aber sein Versprechen, die afghanischen Sicherheitskräfte weiterhin finanziell und militärisch zu unterstützen. Wenn die USA nun noch von Stabilisierungsmaßnahmen sprechen, kaschiere das Ruttig zufolge aber lediglich die Tatsache, „dass man Afghanistan aufgebeben hat“. Abzuziehen, einen „Scherbenhaufen“ zu hinterlassen und dann anzunehmen, dass es noch Einflussmöglichkeiten gebe, sei „lächerlich“.

Auch die internationalen Bemühungen der vergangenen Jahrzehnte um Stabilisierung seien nicht erfolgreich gewesen, zieht Ruttig Bilanz. Das Verbünden der Regierung mit den Warlords und die Korruption bezeichnete der Experte als Bedingungen, unter denen es unmöglich sei, auch nur „Ansätze einer Demokratie aufzubauen“. Auch lebt in Afghanistan eine Vielzahl an ethnischen Gruppen.

Afghanische Armeesoldaten in der Provinz Herat
APA/AFP/Hoshang Hashimi
Die afghanischen Streitkräfte kämpfen an vielen Fronten gegen die Taliban – Städte und Dörfer werden so zu Schlachtfeldern

Sorge über Rückkehr in alte Zeiten

Das Ziel der Taliban ist freilich ein anderes als Demokratie: die Errichtung eines islamischen Regimes, das sich gegen die Westernisierungs- und Modernisierungsprozesse wendet und eine strenge Auslegung des islamischen Rechts durchsetzt. „Da wären dann natürlich die Frauen sowie die jüngere und gebildetere Generation betroffen", sagt Rasuly-Paleczek. Denn diese hätten ganz andere Ziele als eine Rückkehr in alte Zeiten.

Die Taliban hatten ab 1996 weite Teile Afghanistans unter ihrer Kontrolle. Bis zur US-geführten Intervention 2001 verbannten sie Mädchen aus Schulen und steinigten Frauen wegen Ehebruchs zu Tode.

Ohnehin lehne die Bevölkerung zu einem beträchtlichen Teil das Taliban-Regime ab. Denn im Vergleich zur ersten Herrschaftsperiode, wo manche den Taliban zunächst noch zugute gehalten hatten, dass sie im Kampf gegen die Warlords für Stabilität sorgten, sei man nun nicht mehr bereit, den großen Preis dafür zu zahlen: nämlich die totale Einschränkung der persönlichen Freiheiten.

Blick auf Kabul
Reuters
Derzeit erobern die Taliban eine Bezirkshauptstadt nach der anderen – auch Kabul könnte dem US-Geheimdienst zufolge schneller fallen als angenommen

„Schrecken ohne Ende“

Unterdessen kamen die Friedensgespräche über einen Waffenstillstand zwischen Taliban und Regierung beziehungsweise über die Aufteilung der Macht zum Erliegen, weil „die Taliban davon ausgehen, je mehr Gebiete sie erobern, umso stärker ist ihre Position am Verhandlungstisch“, so Rasuly-Paleczek.

Aufgrund der vielen Konfliktherde und Konfliktparteien aus dem In- und Ausland bedürfe es ohnehin nicht nur einer innerafghanischen Lösung über die Machtverteilung, sondern auch einer Lösung mit den Nachbarstaaten und den Großmächten. Diese liege nach Einschätzung von Rasuly-Paleczek aber noch in weiter Ferne. „Ich sehe hier nur ein Schrecken ohne Ende. Und die Bevölkerung ist dem völlig ausgeliefert.“