Sicht auf Kolola Poshta in Kabul
APA/AFP/Sajjad Hussain
Taliban-Offensive

Kabul wird laut Geheimdiensten bald fallen

Angesichts des rasanten Vormarsches der militant-islamistischen Taliban in Afghanistan könnte die Hauptstadt Kabul viel früher in die Hände der Aufständischen fallen als bisher von den USA angenommen. Der Zusammenbruch könnte in 30 bis 90 Tagen erfolgen, berichtete die „Washington Post“ am Dienstag (Ortszeit).

Das für gewöhnlich sehr gut informierte Blatt berief sich dabei auf nicht genannte Quellen in den US-Geheimdiensten. Noch im Juni hatten US-Geheimdienstmitarbeiter die Lage so eingeschätzt, dass Kabul in einem Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten nach dem weitgehenden Abzug des US-Militärs und internationaler Truppen unter Kontrolle der Taliban geraten könnte.

Bei ihrer jüngsten Offensive eroberten die Dschihadisten bereits neun der 34 Provinzhauptstädte. Mit Faizabad sei die Hauptstadt der nordöstlichen Provinz Badakhshan gefallen, bestätigten ein Provinzrat und ein Parlamentsvertreter der Provinz der dpa am Mittwoch. Nur Stunden vor dem Fall wurden die 200 Kilometer nördlich von Kabul gelegene Provinzhauptstadt Pol-e Kumri sowie Farah in der gleichnamigen Provinz im Westen des Landes eingenommen.

Biden: Afghanen müssen selbst kämpfen

Unterdessen verteidigte US-Präsident Joe Biden den US-Abzug am Dienstag (Ortszeit) einmal mehr: Er sagte, dass der Kampf gegen die Taliban nunmehr eine Sache der Afghanen sei. Sie müssten „selbst um ihren Staat kämpfen“, so Biden im Weißen Haus. Ihre Streitkräfte seien den Taliban militärisch überlegen, auch in Bezug auf die Truppenstärke. „Aber sie müssen auch kämpfen wollen“, so Biden.

US-Präsident Joe Biden
APA/AFP/Getty Images/Alex Wong
Biden verteidigte den US-Abzug aus Afghanistan erneut: Die Afghanen müssten nun „selbst um ihren Staat kämpfen“.

Der US-Präsident appellierte auch an die politische Führung in Kabul, an einem Strang zu ziehen. Wörtlich sagte er: „Ich glaube, sie beginnen zu verstehen, dass sie an der Spitze politisch zusammenkommen müssen.“ Biden versprach, die USA würden die afghanischen Sicherheitskräfte weiterhin finanziell und militärisch unterstützen. Er werde jeden Tag über die Lage unterrichtet.

„Bedauere Entscheidung nicht“

Mit Blick auf den von ihm angeordneten Abzug des US-Militärs fügte der Präsident hinzu: „Aber ich bedauere meine Entscheidung nicht.“ Zum Zeitpunkt der Entscheidung hatten die USA noch rund 2.500 Soldaten in Afghanistan. Inzwischen ist der Abzug nach Militärangaben zu mehr als 95 Prozent abgeschlossen. Bis zum Monatsende soll er komplett beendet sein. Die deutsche Bundeswehr und die Soldaten anderer NATO-Länder haben Afghanistan bereits verlassen.

Präsident nach Masar-e Sharif geflogen

Präsident Ashraf Ghani flog am Mittwoch in die belagerte Stadt Mazar-e Sharif im Norden des Landes – dort war die deutsche Bundeswehr stationiert. Er wolle sich ein Bild von der „allgemeinen Sicherheitslage in der nördlichen Zone“ machen, teilte der Präsidentenpalast mit. Dabei wird er wahrscheinlich auch mit dem einflussreichen Ex-Gouverneur von Balkh, Atta Mohammed Noor, und dem berüchtigten Kriegsherrn Abdul Rashid Dostum über die Verteidigung der Stadt beraten.

Mazar-e Scharif ist die Hauptstadt der Provinz Balkh und die größte Stadt im Norden Afghanistans. Sie ist das wirtschaftliche Zentrum der Region im Norden, der als Bollwerk gegen die Taliban gilt. Eine Einnahme Mazar-e Sharifs durch die Extremisten wäre ein harter Schlag für die Regierung in Kabul. Damit würde sie die Kontrolle über den Norden des Landes endgültig verlieren.

Russland: Taliban kontrollieren Grenzen im Norden

Russischen Angaben zufolge habe die Extremisten die Kontrolle über Afghanistans Grenzen zu den früheren Sowjetrepubliken Tadschikistan und Usbekistan übernommen. Die Taliban hätten versprochen, die Grenzen nicht zu überschreiten, zitierte die Zeitung „Kommersant“ am Mittwoch Verteidigungsminister Sergej Schoigu.

Gleichzeitig wurde bekannt, dass nahe der bereits eroberten Stadt Kunduz Hunderte afghanische Sicherheitskräfte vor den Islamisten kapituliert hätten. Soldaten, Polizisten und Kämpfer hätten sich „mitsamt ihrer militärischen Ausrüstung“ den Taliban ergeben, sagte Amruddin Wali, ein Mitglied des Provinzrates von Kunduz, am Mittwoch.

EU-Botschafter empfehlen Abschiebestopp

Unterdessen sprachen die EU-Botschafter in Afghanistan die Empfehlung aus, Abschiebungen in das Krisenland vorerst auszusetzen. Angesichts des sich verschärfenden Konflikts, der prekären Sicherheits- und Menschenrechtslage sowie des Mangels an sicheren Räumen im Land werde empfohlen, eine vorübergehende Aussetzung von Zwangsrückführungen aus EU-Mitgliedsstaaten nach Afghanistan zu erwägen, heißt es in einem an die Mitgliedsstaaten versendeten Bericht der EU-Missionschefs in Kabul.