Kleinflugzeug
ORF.at/Günther Rosenberger
„Die Anomalie“

Erfolgsroman über die Grenzen des Realen

In Herve Le Telliers am Dienstag auf Deutsch erschienenem Roman „Die Anomalie“ geschieht das Unmögliche: Ein und dasselbe Flugzeug landet zweimal, und plötzlich stellen sich für Passagiere und Behörden existenzielle Fragen. Der Roman, der mühelos Science-Fiction, Thriller und Komödie verbindet, wurde in Frankreich mit dem wichtigen Prix Goncourt ausgezeichnet.

Jährlich im November herrscht Aufregung in der französischen Literaturwelt, wenn sich zehn Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Pariser Restaurant Drouant treffen, um als Jury den Prix Goncourt zu vergeben. Die Auszeichnung für den besten französischsprachigen Roman des Jahres ist mit lediglich zehn Euro dotiert, garantiert aber hohe Verkaufszahlen in den Buchhandlungen und Übersetzungen in diverse Sprachen.

Mit „Die Anomalie“ des amtierenden Preisträgers Le Tellier wurde auch eine ganze literarische Tradition ausgezeichnet. Denn Tellier ist Präsident der Vereinigung OULIPO (L’Ouvroir de litterature potentielle, etwa: Werkstatt für potenzielle Literatur), die seit den 1960er Jahren literarische Experimente unternimmt, bei denen Texte nach vordefinierten Regeln entstehen.

Schreiben nach Regeln

Aus diesem Ansatz heraus schrieben beispielsweise George Perec 1969 den Roman „La Disparition“ (Deutsch: „Anton Voyls Fortgang“), der ohne eine einzige Verwendung des Vokals „e“ auskommt, und Italo Calvino „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ (1979), einen Roman, der aus Romananfängen verschiedener Genres besteht.

Autor Herve Le Tellier
APA/AFP/Thomas Samson
Herve Le Tellier, Präsident der experimentellen Schriftstellergruppe OULIPO, erhielt für „Die Anomalie“ den Prix Goncourt

Der 64-jährige Le Tellier hat über 30 Bücher veröffentlicht, erst jetzt kommt er zu spätem Ruhm. Der studierte Mathematiker offenbart in „Die Anomalie“ ein Faible für die Grenzbereiche der exakten Wissenschaften und die dort angesiedelten Fragen. Die titelgebende „Anomalie“ besteht darin, dass ein und dieselbe Boeing 787 der Air France samt den identen Passagieren gleich zweimal, einmal im März und einmal im Juni 2021 in New York landet.

Das Prinzip Serie

Die im Hintergrund mitlaufende Regel des Romans wird darin selbst angesprochen: „Drei Personen, sieben, zwanzig? Wie vielen simultanen Erzählungen wäre ein Leser bereit zu folgen?“ Die Antwort muss wohl lauten: So viele ein Autor in der Lage ist, spannend zu erzählen.

Buchvover von „Die Anomalie“ von Hervé Le Tellier
Rowohlt Hundert Augen
Herve Le Tellier: Die Anomalie. Aus dem Französischen von Romy Ritte und Jörg Ritte. Rowohlt Hundert Augen, 352 Seiten, 22,70 Euro.

Wie Le Tellier sein selbst gestelltes Problem löst, ist beeindruckend. Er führt Figur um Figur ein, die er jeweils auf wenigen Seiten umreißt und dann zur nächsten übergeht. „Die Anomalie“ funktioniert wie eine Mysteryserie, in der pro Folge eine einzelne Figur in den Mittelpunkt gestellt wird und die Leserinnen und Leser erst langsam deren Verbindungen erkennen können.

Da gibt es den Auftragsmörder Blake, der eine perfekte Fassade als Familienvater und Kleinunternehmer hat. Weiters den erfolglosen Autor Victor Miesel, der sich mit Übersetzungen seichter Romane durchschlägt. Der nigerianische Afro-Pop-Sänger Slimboy muss seine Homosexualität verheimlichen, um sein Rapperimage nicht zu gefährden. Die alleinerziehende Cutterin Lucie wird von dem alternden Stararchitekten Andre hofiert. Sie alle und noch viele mehr eint eine banale Gemeinsamkeit: Sie nehmen am 10. März 2021 den Linienflug Air France 006 von Paris nach New York, der in Wetterturbulenzen gerät.

Die Welt als Hypothese

Sie alle leben nach dem beschwerlichen, aber letztlich alltäglichen Flug weiter wie bisher – bis dieselbe Maschine drei Monate später wieder in New York landet. Schnell wird ein durch und durch skurriles Forscher- und Expertenteam zusammengestellt, das herausbekommen soll, was mit diesen Menschen – allesamt, ohne es zu wissen, Doppelgänger der im März Gelandeten – zu tun ist.

Die Physikerinnen, Mathematiker, Psychologinnen und Geheimdienstmitarbeiter entwickeln eine unbequeme Hypothese: Die Realität muss eine Simulation sein, die durch diesen absurden Fehler deutlich wird. Wer hier an die dystopischen Science-Fiction-Klassiker der „Matrix“-Reihe denkt, liegt nicht falsch. Auch Douglas Adams Kultromanreihe „Per Anhalter durch die Galaxis“ wird zitiert. Dort lautet die Antwort auf die Frage aller Fragen bekanntlich 42, bei Le Tellier regelt das geheime Notfallprotokoll Nummer 42, entwickelt von Wissenschaftlern nach 9/11, die Vorgehensweise bei undenkbaren Ereignissen.

Programme und Doubles

In der mit leichtgängiger Sprache erzählten Handlung verstecken sich Verschachtelungen und komplexe Fragen, die genau diesen Wahnwitz ausbuchstabieren: Literatur kann in künstlichen Welten erzählen, was kaum denkbar, jedenfalls nicht lösbar ist.

So muss, aus der Warte der fiktiven Nobelpreisträger und Kapazunder, die simulierte Realität von lauter Menschen bevölkert sein, die eigentlich „Programme“ sind. Haben „Programme“ einen freien Willen? Echte Gefühle? Lieben Sie? Eine der grandiosen Pointen dieses Romans ist es, dass diese Kategorie an letzten Fragen an den Präsidenten der USA vermittelt werden muss, der in der Parallelwelt der im Original im August 2020 erschienen „Anomalie“ Donald Trump heißt.

Eine andere Konsequenz der mit psychologischer Raffinesse und Pageturnerqualitäten dahinrasenden 350 Seiten Handlung ist, dass etliche der „Juni“-Figuren ihre „März“-Doppelgänger treffen und sich recht unterschiedlich damit arrangieren. „Die Anomalie“ ist ein großer, philosophisch grundierter Spaß, ein Buch, wie gemacht für eine Serienumsetzung. Glücklicherweise hat Le Tellier den Vertrag dafür schon unterzeichnet, wie das französische Branchenblatt „Livres Hebdo“ vermeldete.