Apollo Theater in Harlem
AP/Jim Wells
„Harlem Shuffle“

Zeitreise ins brodelnde Harlem

Colson Whitehead ist ein Superstar der US-Literaturszene: Zweimal in vier Jahren (2017 und 2020) wurde er mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Nun erscheint „Harlem Shuffle“: ein New Yorker Stadtteilporträt, ein historischer Gangsterroman und ein wichtiges Puzzlestück zum Verständnis der „Black Lives Matter“-Bewegung. Die Lektüre überzeugt – großteils.

Selten verlaufen Karrieren so geradlinig wie jene von Whitehead: in Manhattan in betuchtem Umfeld aufgewachsen, Eliteschule, Harvard, Journalist bei „The Village Voice“ und nach dem Erscheinen der Sciene-Fiction-Parabel „The Intuitionist“ bereits vom überregionalen US-Feuilleton für das Debüt des Jahres gefeiert.

Von Jonathan Franzen wurde Whiteheads zweiter Titel „John Henry Days“ mit „Ulysses“ und „Moby Dick“ verglichen, allerdings nicht ohne den Nachsatz, das Buch sei kein Pageturner. Jetzt kann man darüber streiten, ob man „Ulysses“ und „Moby Dick“ wirklich an keiner Stelle weglegen kann, ohne fiebrig darauf zu warten, wie es weitergeht („Moby Dick“ im Verlauf der Story dann schon). „Unbeirrbares Erzählen“, sich Detail für Detail widmend, könnte man jedenfalls als Klammer um James Joyce, Herman Melville und Whitehead schließen.

Colson Whitehead
APA/AFP/Daniel Roland
Colson Whitehead auf der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2019

Nur nicht die 110th Street überqueren

Dieses unbeirrbare Erzählen, immer entlang historischer Bruchlinien der „People of Color“ in den USA, brachte ihm denn auch seinen größten Erfolg ein: Der Pulitzer-Preis wurde Whitehead als drittem Schriftsteller in der Geschichte gleich zweimal verliehen, 2017 für „The Underground Railroad“, 2020 für „The Nickel Boys“. „Underground Railroad“ ist gerade als vielbeachtete Serie auf Amazon Prime zu sehen.

Nun also „Harlem Shuffle“, ein Titel, bei dem sofort Assoziationen wach werden: „Just move it right here/To the Harlem Shuffle/Huh, yeah, yeah, yeah/Do the Harlem Shuffle“. Nur geht es bei Whitehead nicht um den Dance-Move, dem die Rolling Stones mit ihrer Interpretation eines Songs von Bob & Earl ein Denkmal setzten, sondern um den anderen „Harlem Shuffle“, um das Brodeln Harlems während der 60er Jahre, umgeben von rassistischen Grenzen; nur nicht die 110th Street überqueren. So ist auch Bobby Womacks Song „Across 110th Street“ (siehe den gleichnamigen Film von und mit Anthony Quinn) der viel bessere Soundtrack zum Buch als die Stones-Nummer:

„Doing whatever I had to do to survive/I’m not saying what I did was alright/Trying to break out of the ghetto was a day to day fight/(…) Across 110th Street/Pushers won’t let the junkie go free“

Doppelleben, Harlem-Style

Mittendrin in diesem Druckkochtopf lebt Ray Carney mit seiner Frau Elisabeth, die gerade das zweite Kind erwartet. Elisabeths Eltern biedern sich der Elite von Harlem an, die das weiße System von Korruption und Vetternwirtschaft unter schwarzen Vorzeichen kopiert. Carney hingegen wuchs alleine mit seinem Vater auf, einem Kleinkriminellen, den in den Straßen noch immer jeder kennt, obwohl er längst verstorben ist. Doch Carney lebt nicht nur zwischen der dreckigen, brutalen Harlem-Welt seiner eigenen Familie und der verlogenen Etepetete-Welt der Familie seiner Frau.

Er lebt mittendrin in beiden Welten. Als Selfmademan hat er Wirtschaft studiert und ein Möbelgeschäft aufgebaut. Aber wenn man als Schwarzer in Harlem nach und nach expandieren und sich etwas aufbauen will, wenn es mit dem zweiten Kind dann eine größere Wohnung nicht direkt an der Hochbahn sein soll, wenn man vom Schwiegervater endlich ernst genommen werden will, braucht man Geld – und das wird einem Schwarzen aus Harlem von der Bank nicht nachgeschmissen. Und so verdingt sich Ray als Hehler. Weil, wer A sagt, auch B sagen muss, wird er dabei gegen seinen Willen immer weiter in kriminelle Machenschaften verstrickt.

Pulsierend und in Sepia getaucht

Aus dem Gegenspiel der beiden Welten und aus der ständigen Gefahr, dass sie aufeinanderprallen, dass Rays ganzes Konstrukt eines Doppellebens implodiert wie einer der neumodischen Fernseher, von denen er immer mehr verkauft in seinem Geschäft, daraus bezieht das Buch seinen Spannungsbogen. Und daraus, dass die unfreiwilligen Gangstereskapaden Rays zu einem Katz-und Maus-Spiel werden, bei dem Ray nicht die Katze ist. Zieht sich die Schlinge zu? Das hat durchaus Pageturner-Qualitäten.

Buchcover „Harlem Shuffle“
Hanser
Colson Whitehead: Harlem Shuffle. Hanser, 384 Seiten, 25.95 Euro.

Dazu kommt, dass Whitehead das Harlem der 60er Jahre detailreich beschreibt. Fast beiläufig erzählt er gleich am Anfang anhand einer einzelnen Szene in einem staubigen Geschäft davon, wie die TV- die Radioära ablöst, und liefert einen Teil der Geschichte Harlems gleich mit, man spürt das Pulsieren der Stadt und kann sich lesend nicht entziehen. Wenn man so will, sind es diese epischen Flächen inmitten eines Buches, das mit Sicherheit kein Epos ist und auch gar keines sein möchte, die den Text zu etwas Besonderem machen.

Zudem liefert das Buch ein historisches Fundament für ein tieferes Verständnis der „Black Lives Matter“-Bewegung. Ray erlebt die Unruhen in Harlem 1964, nachdem ein schwarzer Bursch von Polizisten erschossen wird. Eine schwarze Widerstandsbewegung formiert sich. Rays Frau arbeitet in einem Reisebüro, das für seine schwarzen Kunden Reiserouten austüftelt, wo man vor rassistischen Übergriffen halbwegs sicher ist und Motels findet, die einen aufnehmen.

Kausal- statt Assoziationsketten

Whitehead wohnt nicht nur zeit seines Lebens in New York. Er hat dem gezielten Locations Scouting in Harlem für das Buch auch ganz schön viel Zeit gewidmet. In dieses Harlem wird man mitgenommen. Die Dichte im Erzählen teilt er mit Pynchon, nicht aber dessen erzählerische Anarchie, nicht dessen wildes Rasseln mit der Assoziationskette. Whitehead rasselt höchstens mit Kausalketten. Stringent werden Wenn-dann-Beziehungen durchdekliniert. Eines ergibt das andere im Leben von Ray. Und wenn die Gesellschaft so und so ist, dann wirkt sich das auf das Leben Rays so und so aus.

Veranstaltungshinweis

Colson Whitehead liest am 13. Oktober im Wiener Konzerthaus aus „Harlem Shuffle“.

Sosehr Whitehead die Leserschaft ins Harlem der 60er Jahre hineinversetzt, so wenig versetzt er sie in Herz und Hirn seines Protagonisten. Der bleibt, obwohl die Ambivalenz, die er lebt, im Zentrum der Handlung steht, seltsam flach. Er ist halt kriminell einerseits und ein rechtschaffener Bürger andererseits. Ein Gefühl dafür, ob es ihn dabei nicht zerreißt, bekommt man an keiner Stelle.

Viel Stoff für weitere Serie

Das Buch ist also spannungsgetrieben, atmosphärisch dicht, historisch versiert und vermittelt Bildung für alle, die „Black Lives Matter“ besser verstehen wollen. Erzählerisch überschlagen sich die Ideen allerdings nicht, sprachlich bleibt Whitehead auf dem Boden, und seine Figuren erleben zwar viel, aber wir lernen sie nicht so richtig kennen. Die Geschichte gibt jedenfalls wieder viel für eine Streaming-Serie her. Und da ist es dann an den Schauspielerinnen und Schauspielern, ihren Figuren Tiefe zu verleihen.