Geflüchtete in einem öffentlichen Park in Kabul
AP/Rahmat Gul
Vormarsch der Taliban

Sicherheitslage in Afghanistan prekär

Angesichts der Gebietsgewinne der militant-islamistischen Taliban verschlechtert sich die Sicherheitslage in Afghanistan zusehends. Immer mehr Länder wollen daher Diplomaten und Personal aus dem umkämpften Land abziehen. Die USA sind nach Angaben des Pentagon dazu bereit, täglich Tausende Menschen aus der Hauptstadt Kabul auszufliegen.

Pentagon-Sprecher John Kirby sagte am Freitag, die ersten US-Soldaten zur Absicherung der Evakuierungsaktion für US-Diplomaten und andere Zivilisten befänden sich bereits in Kabul. Bis Sonntag werde der „Großteil“ von insgesamt 3.000 US-Soldatinnen und US-Soldaten in Kabul erwartet. Trotz des Vormarsches der radikalislamischen Taliban in Afghanistan sagte Kirby, Kabul sei derzeit nicht „unmittelbar gefährdet“.

Zugleich räumte Kirby ein, dass die Islamisten auf eine „Isolierung Kabuls“ setzten. Nach Informationen der „New York Times“ haben US-Unterhändler Vertreter der Taliban gebeten, die US-Botschaft in Kabul nicht anzugreifen, falls sie die Regierungsgeschäfte übernehmen und jemals ausländische Hilfe bekommen wollen.

Pentagon in „großer Sorge“

Die 3.000 US-Soldatinnen und US-Soldaten sollen die Evakuierung der US-Botschaft unterstützen. Das Pentagon hatte außerdem die Verlegung zusätzlicher 4.000 Soldatinnen und Soldaten nach Kuwait und rund 1.000 nach Katar angekündigt. Der Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan solle aber weiterhin bis 31. August abgeschlossen werden, hieß es.

Taliban erobern weitere Gebiete

In Afghanistan sind bereits 18 der 34 Provinzhauptstädte in der Hand der militant-islamistischen Taliban. Nun sind sie nur noch 70 Kilometer von der Hauptstadt Kabul entfernt.

Die USA beobachteten mit „großer Sorge“, in welcher Geschwindigkeit die Taliban ihre Kontrolle in Afghanistan ausbauten sowie den „Mangel an Widerstand, mit dem sie konfrontiert sind“, sagte Kirby weiter. Die Afghanen forderte er auf, den Taliban-Angriffen mit der „politischen“ und „militärischen“ Führung zu begegnen, die „an der Front erforderlich sind“. Ob sich das „bezahlt“ mache, hänge von den Afghanen ab. „Kein Ergebnis muss unausweichlich sein“, fügte Kirby hinzu.

Zerstörung sensiblen Materials

Die US-Botschaft in Kabul forderte unterdessen ihr Personal zur Zerstörung sensiblen Materials auf. In einem Vermerk an die Botschaftsmitarbeiter verwies ein Gebäudetechniker sie am Freitag auf die bestehenden Möglichkeiten zur Verbrennung oder Entsorgung von Dokumenten und Gerätschaften. Zerstört werden sollten alle Gegenstände, die von den Taliban für ihre Propaganda „missbraucht werden könnten“.

Als Beispiele für zu entsorgende Gegenstände wurden in dem Vermerk Produkte genannt, die das Logo der Botschaft oder von US-Behörden tragen, aber auch US-Flaggen. Ein Sprecher des US-Außenministeriums sagte, die Botschaft in Kabul bereite einen „Abbau“ vor. „Der Abbau unserer diplomatischen Posten erfolgt gemäß einem standardmäßigen Prozedere, das darauf abzielt, unseren Fußabdruck zu minimieren.“

Johnson warnt Westen vor Abwendung

Auch Großbritannien will rund 600 zusätzliche Soldaten schicken, um die Rückführung von Briten aus Afghanistan zu sichern. Zugleich warnte der britische Premierminister Boris Johnson den Westen davor, sich von Afghanistan abzuwenden. Das Land dürfe „nicht erneut zur Brutstätte für Terror“ werden, sagte er am Freitag nach einem Krisentreffen seines Kabinetts. Der Abzug westlicher Truppen komme zum falschen Zeitpunkt, sagte Verteidigungsminister Ben Wallace und warnte, das Terrornetzwerk al-Kaida „wird wahrscheinlich zurückkommen“.

Kirby warf der afghanischen Führung und den Sicherheitskräften indes mangelnde Kampfbereitschaft vor. Es sei „beunruhigend“ zu sehen, dass die politische und militärische Führung nicht den „Willen“ gehabt habe, sich dem Vormarsch der militanten Islamisten zu widersetzen. Die USA hätten den „fehlenden Widerstand“ durch die afghanischen Streitkräfte nicht vorhersehen können, so Kirby.

Taliban-Kämpfer in Kandahar
APA/AFP
Die Taliban haben die Kontrolle in Kandahar übernommen

Die afghanischen Sicherheitskräfte seien den Taliban in Bezug auf Ausrüstung, Training und Truppenstärke überlegen und verfügten über eine eigene Luftwaffe, sagte Kirby. Zuletzt hatte US-Präsident Joe Biden am Donnerstag im Weißen Haus erklärt, die Afghanen müssten nun „selbst kämpfen, um ihren Staat kämpfen“.

Russland: „Das ist falsch“

Nach Ansicht des russischen Außenministers Sergej Lawrow schwindet die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung des Konflikts. „Wir sprechen mit allen mehr oder weniger bedeutenden politischen Kräften in Afghanistan – sowohl mit der Regierung als auch mit den Taliban“, sagte er. „Wir sehen aber, wie schwierig es ist, in der afghanischen Gesellschaft einen Konsens zu finden.“

Zugleich verurteilte Lawrow das Vorgehen der Taliban. Sie hätten beschlossen, die Situation militärisch zu lösen. „Sie erobern immer mehr Städte und Landkreise. Das ist falsch“, sagte er. Russland hat sich wiederholt für einen Dialog zwischen der afghanischen Regierung, den Taliban und anderen Gruppen des Landes ausgesprochen – und dafür auch Konferenzen organisiert, um die Gespräche voranzutreiben.

Evakuierungsaktionen mehrere Länder

Auch andere europäische Länder kündigten Evakuierungsaktionen für ihr diplomatisches Personal sowie für afghanische Ortskräfte an, darunter Deutschland, die Niederlande, Schweden, Norwegen und Dänemark. Österreich unterhält in Kabul keine Botschaft, das Außenministerium in Wien weiß aktuell von insgesamt zwei österreichischen Staatsbürgern, die sich derzeit in Afghanistan aufhalten.

Taliban-Kämpfer in der Stadt Ghazni
AP/Gulabuddin Amiri
Taliban-Kämpfer beherrschen das Straßenbild

Auch aus Sicherheitskreisen in Madrid hieß es, an der Ausreise afghanischer Dolmetscher, die für die spanischen Streitkräfte tätig gewesen waren, werde gearbeitet. Bereits vor mehreren Tagen hatte das spanische Außenministerium alle noch in Afghanistan befindlichen Spanier aufgerufen, das Land „so schnell wie möglich“ zu verlassen.

UNO-Chef: „Afghanistan gerät außer Kontrolle“

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres warnte vor einer Verschlechterung der Lage. „Afghanistan gerät außer Kontrolle“, sagte er und forderte die Taliban auf, ihre Offensive sofort zu stoppen. Die Staatengemeinschaft müsse deutlich machen, dass „eine Machtergreifung durch militärische Gewalt ein aussichtsloses Unterfangen ist“. Das könne nur „zu einem längeren Bürgerkrieg oder die komplette Isolation Afghanistans führen“.

Analyse der Afghanistan-Situation

ORF-Korrespondentin Inka Pieh und Johannes Marlovits aus der ZIB-Auslandsredaktion schätzen die Lage in Afghanistan ein.

„Wir stehen kurz vor einer humanitären Katastrophe“, hatte zuvor eine Sprecherin des UNO-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) gesagt. Vor allem Frauen und Kinder würden vor den vorrückenden Taliban flüchten. Inzwischen sei die Lebensmittelversorgung von etwa einem Drittel der Bevölkerung nicht mehr sichergestellt, sagte ein Sprecher des Welternährungsprogramms (WFP). Allein zwei Millionen Kinder seien auf Hilfe angewiesen. Die Lage werde immer unübersichtlicher.

18 Provinzhauptstädte erobert

Die Taliban näherten sich unterdessen weiter einer militärischen Machtübernahme im Land. Binnen einer Woche nahmen sie mehr als die Hälfte aller Provinzhauptstädte ein. Am Freitag waren 18 der 34 Provinzhauptstädte unter ihrer Kontrolle. Nach der zweitgrößten Stadt Kandahar und der Stadt Lashkar Gah in der Früh eroberten die Taliban mit Pul-e Alam in der Provinz Logar eine Provinzhauptstadt nur 70 Kilometer südlich der Hauptstadt Kabul.

Grafik zum Vormarsch der Taliban in Afghanistan
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: longwarjournal.org/Guardian

Aus Sicherheitskreisen heißt es seit Längerem, dass in der Provinz Logar Taliban-Kämpfer für einen Angriff auf Kabul versammelt werden. Am Freitag folgte die Einnahme der Städte Feruz Koh in der Provinz Ghor, Terenkot in der Provinz Uruzgan und Qalat in der Provinz Zabul. Drei Großstädte, darunter die Hauptstadt Kabul und Mazar-i-Sharif im Norden, sind noch unter Kontrolle der Regierung. Es gibt Berichte über Angriffe auf weitere kleinere Provinzhauptstädte des Landes.

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani schwieg lange zur Lage. Am Freitag teilte sein Vizepräsident Amrullah Saleh mit, in einer Sicherheitssitzung im Präsidentenpalast sei entschieden worden, weiter der „Armee der Ignoranz und des Terrors“, damit meinte er die Taliban, entgegenzustehen. Man werde den Sicherheitskräften alle dafür notwendigen Mittel zur Verfügung stellen. Es wird geschätzt, dass es rund 300.000 Sicherheitskräfte und 60.000 Taliban-Kampfer gibt.