Passagierflugzeug
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Abschiebeforderung

Experte sieht Kalkül der ÖVP

Trotz der Situation in Afghanistan hält die ÖVP in Person von Innenminister Karl Nehammer an Abschiebungen fest. Beim Koalitionspartner sorgt die Position für Kopfschütteln. Das Thema habe sich mit der Taliban-Übernahme erledigt, so die Grünen. Dass die ÖVP aber von ihrer Linie abrücken wird, sei nicht zu erwarten, so Politikberater Thomas Hofer. Denn die Partei wolle beim Thema Asyl der FPÖ „kein Terrain“ überlassen.

Erst am Sonntag hatte Nehammer in einem Interview mit der „Kleinen Zeitung“ gesagt, dass man „in Kooperation mit Afghanistan“ an einem Abschiebeflug arbeite. Das war zwar noch ein paar Stunden vor dem Siegesmarsch der Taliban in Kabul, aber auch während des Feldzuges der Extremisten im ganzen Land. Für Völkerrechtsfachleute, mit denen ORF.at gesprochen hat, sind Abschiebungen schon länger faktisch und aus rechtlicher Sicht nicht mehr möglich. Die UNO forderte alle Länder auf, die zwangsweise Rückführung vorübergehend auszusetzen.

„Wenn Abschiebungen aufgrund der Grenzen, die uns die Europäische Menschenrechtskonvention setzt, nicht mehr möglich sind, müssen Alternativen angedacht werden“, so Nehammer am Montag. Deshalb will der ÖVP-Politiker am Mittwoch den EU-Innenministerinnen und -Innenminister Abschiebezentren um Afghanistan vorschlagen. Das wäre eine Möglichkeit, um weiter abschieben zu können.

ÖVP und die „innenpolitische Front“

„Es werden nun Alternativgeschichten ins Spiel gebracht, um ja nicht von der harten Linie abzurücken“, so Politikberater Hofer im Gespräch mit ORF.at. Mit Blick auf das Chaos auf dem Flughafen in Kabul sei offenbar klar geworden, dass die Erzählung, man will weiter nach Afghanistan abschieben, nicht mehr funktioniert. „Trotzdem ist klar: Die ÖVP scheut den Begriff ‚Abschiebestopp‘ wie der Teufel das Weihwasser“, sagte der Politikexperte. Es gehe um eine „innenpolitische Front“, wie er betont.

Innenminister Karl Nehammer
APA/Herbert Neubauer
Seit Tagen pocht Innenminister Nehammer auf Abschiebungen – nun spricht er von Abschiebezentren

Konkret meint Hofer die FPÖ, die die Position der ÖVP vor Tagen als „Bluff“ bezeichnete. Abschiebungen würden nämlich nicht stattfinden, so der freiheitliche Klubchef Herbert Kickl. „Sowohl die ÖVP als auch die FPÖ schielen auf potenzielle FPÖ-Wähler“, sagte Hofer. Auch Kickl habe als Innenminister bereits ein „Abschiebezentrum“ für abgelehnte Asylwerber und Asylwerberinnen vorgeschlagen.

Bei der Nationalratswahl 2019 konnte die ÖVP sehr viele frühere FPÖ-Wähler und -Wählerinnen von sich überzeugen. „In der Pandemie ist die Lage wieder anders. Viele Personen, die 2019 noch die Volkspartei wählten, tendieren wieder mehr zu den Positionen der FPÖ“, so Hofer. Um eine Wählerabwanderung zu verhindern, bleibe die ÖVP also bei ihrer Linie, dass man weiterhin abschieben werde – „auch wenn es mit der Macht des Faktischen nicht standhält“, so der Politikberater.

Koalition erneut uneins

Die Grünen hatten nach der Machtübernahme der Taliban verstärkt Druck auf das Innenministerium gemacht, um Abschiebungen in das Land endgültig auszusetzen. Nachdem Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) erklärt hatte, dass sich das Thema nun erledigt habe, meldete sich die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, auf Twitter zu Wort. „Alle, die jetzt nicht über akute Hilfe und Versorgung für die Fliehenden, sondern über Abschiebung reden – schämt Euch einfach.“

Mückstein: Abschiebungen nach Afghanistan „haben sich erledigt“

Dass die Grünen hier eine andere Position vertreten als die ÖVP, ist nicht neu. Bereits in der Vergangenheit übten Mandatarinnen und Mandatare Kritik an der ÖVP – insbesondere bei den Debatten über Abschiebungen von Minderjährigen. „Die Grünen können nun darauf hinweisen, dass eine Abschiebung faktisch nicht möglich ist“, so Hofer.

SPÖ-Parteichefin Pamela Rendi-Wagner äußerte sich am Montag nicht zu den Aussagen von Nehammer. Sie forderte allerdings, dass die EU sichere Zonen in der Region rund um Afghanistan schaffen soll. SPÖ-EU-Abgeordnete Evelyn Regner betonte hingegen, dass die Regierung nicht von Abschiebungen „fantasieren“ soll. NEOS sprach bereits am Wochenende von einer „Sympolpolitik“. „Innenpolitische Kraftmeierei bringt uns nicht weiter“, so NEOS-Mandatar Helmut Brandstätter.

Kaum Abschiebeflüge 2021

Laut den jüngsten öffentlichen Daten des Innenministeriums warten derzeit knapp 5.000 Afghanen und Afghaninnen, ob sie in Österreich Asyl erhalten oder nicht. Damit ist Afghanistan mit Abstand das Land mit den meisten offenen Entscheidungen. Insgesamt wurden heuer mehr als 1.600 Asylanträge rechtskräftig abgelehnt, 1.200 gewährt. Abschiebungen fanden aber seit gut zwei Monaten nicht mehr statt. Der letzte fand im Juni statt. In der Abschiebestatistik für 2020 war Afghanistan nicht mehr unter den Top Zehn.

Kämpfer der Taliban in Kabul
Reuters
2020 wurde kaum nach Afghanistan abgeschoben, der letzte Charterflug fand im Juni 2021 statt

Politikberater Hofer geht auch nicht davon aus, dass die ÖVP an eine Durchführbarkeit von Abschiebungen in die Krisenregion glaubt. „Man schielt auf die Mehrheitsmeinung in Österreich, wonach straffällig gewordene Asylwerber abgeschoben werden sollten“, so Hofer, er von einem „emotional sehr aufgeladenen Thema“ spricht. Ob eine Abschiebung nun logistisch möglich ist, spielt dabei kaum eine Rolle.

Losgelöst vom aktuellen Thema, so der Experte, sollte sich die Politik „natürlich nicht immer auf die Mehrheitsmeinung konzentrieren“. Das gelte für alle Parteien und auch für sehr viele Themen. „Politiker und Politikerinnen wollen emotionalisieren. Fakten sind nur schön, wenn sie die eigenen Aussagen und Forderungen stützen, aber sie sind selten das Erste, worauf Politiker und Politikerinnen zurückgreifen.“