US-Präsident Joe Biden
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Afghanistan

Biden verteidigt US-Truppenabzug

US-Präsident Joe Biden hat sich am Montag erstmals nach der faktischen Machtübernahme der radikalislamischen Taliban in Afghanistan zu Wort gemeldet und den Abzug der US-Truppen verteidigt. Er stehe felsenfest zu seiner Entscheidung, sagte Biden. Scharfe Kritik übte er an der entmachteten politischen Führung Afghanistans und den Streitkräften des Landes.

Die US-Regierung habe das Tempo des Vormarsches der Taliban in Afghanistan zwar unterschätzt. „Dies hat sich schneller entwickelt, als wir erwartet hatten“, sagte Biden bei einer Ansprache im Weißen Haus. Allerdings hätten „die politischen Anführer Afghanistans aufgegeben und sind aus dem Land geflohen“. Das Militär des Landes sei kollabiert, „zum Teil ohne den Versuch zu kämpfen“.

Die USA hätten die afghanischen Sicherheitskräfte ausgebildet und ausgerüstet. Die Vereinigten Staaten hätten ihnen aber nicht den Willen geben können, für ihre Zukunft zu kämpfen: „Amerikanische Truppen können und sollten nicht in einem Krieg kämpfen und in einem Krieg sterben, den die afghanischen Streitkräfte nicht bereit sind, für sich selbst zu führen.“

Tausende Menschen auf Flucht aus Afghanistan

Dramatische Szenen spielen sich seit der Machtübernahme der Taliban auf dem Flughafen von Kabul ab. Tausende Menschen versuchen verzweifelt, das Land zu verlassen.

Nach dem schnellen Vorstoß der Taliban bis in die afghanische Hauptstadt Kabul hatte es Kritik an der US-Führung gehagelt. Die oppositionellen Republikaner sehen einen „verpfuschten Abzug“, Zeitungskommentatoren etwa die „schlimmste US-Demütigung seit dem Fall Saigons 1975“. Auch bei den US-Demokraten regte sich Kritik.

Gegen „endlose Militäreinsätze“

Er sei gegen „endlose Militäreinsätze“, sagte Biden am Montag. Es war seine erste öffentliche Äußerung seit der faktischen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und auch der Hauptstadt Kabul. Das Ziel der USA in Afghanistan sollte nie der Aufbau eines Staates sein, sondern der Kampf gegen den Terrorismus. Das Ziel, die Terrorgruppe al-Kaida nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zu vernichten, sei längst erreicht worden. Das sei seit Jahren sein Standpunkt.

Die USA könnten islamistische Terrorgruppen wie al-Kaida auch ohne eine permanente Militärpräsenz in dem Zielland effektiv bekämpfen. Das US-Militär zeige das in anderen Ländern wie zum Beispiel Somalia oder Jemen. Falls nötig, könne das künftig auch in Afghanistan so geschehen. Den Taliban drohte er für den Fall eines Angriffs auf US-Kräfte mit „einer raschen und starken“ militärischen Reaktion. Das gelte für jede Handlung der Taliban in Afghanistan, die das US-Personal oder deren Mission gefährden würde.

Analyse zur Rede Bidens

Wie erklärt US-Präsident Joe Biden den Amerikanern das außenpolitische Desaster rund um Afghanistan? ORF-USA-Korrespondent Thomas Langpaul analysiert die Rede des Präsidenten.

Biden hatte im Frühjahr angekündigt, dass die damals noch rund 2.500 verbliebenen US-Soldatinnen und -Soldaten Afghanistan bis zum 20. Jahrestag der Anschläge verlassen sollten. Zuletzt wurde das Abzugsdatum auf Ende August vorgezogen.

China kritisiert „überhasteten“ Rückzug

Kritik am „überhasteten“ Rückzug der US-Streitkräfte übte der chinesische Außenminister Wang Yi in einem Telefonat mit seinem US-Kollegen Antony Blinken. Afghanistan zeige, dass es schwierig sei, ein ausländisches Modell in einem Land mit anderer Geschichte und Kultur anzuwenden. „Probleme mit Gewalt und militärischen Mitteln zu lösen führt nur zu neuen Problemen“, wurde Wang zitiert.

China sei bereit, einen Dialog mit den USA zu führen, um einen reibungslosen Übergang in Afghanistan zu fördern und einen neuen Bürgerkrieg und eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Das Land dürfe kein Zufluchtsort und Nährboden für Terrorismus werden. Es müsse ermutigt werden, ein „offenes und inklusives politisches System“ aufzubauen, das zu seinen nationalen Bedingungen passe.

Als ständige Mitglieder im UNO-Sicherheitsrat und wichtige Akteure im internationalen System müssten die USA und China kooperieren. Zu dem Telefonat mit Wang teilte das US-Außenministerium nur kurz mit, dass Blinken mit seinem Amtskollegen über die Entwicklung, die Sicherheitslage und die Bemühungen zur Rückführung von amerikanischen und chinesischen Bürgerinnen und Bürgern gesprochen habe.

Merkel: Lage falsch eingeschätzt

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel räumte am Montag ein, ihre Regierung und die westlichen Verbündeten hätten die Entwicklungen in Afghanistan „falsch eingeschätzt“. Der internationale Militäreinsatz sei „nicht so geglückt, wie wir uns das vorgenommen haben“, sagte Merkel. „Das ist eine Erkenntnis, die ist bitter“, fügte sich hinzu. Die Bündnispartner müssten sich eingestehen, „dass das keine erfolgreichen Bemühungen waren“, insbesondere was den Aufbau freiheitlicherer Strukturen angehe.

„Bitter, dramatisch und furchtbar ist diese Entwicklung insbesondere für die Menschen in Afghanistan“, sagte die Kanzlerin. Merkel dämpfte die Hoffnung auf die Aufnahme von Ortskräften, die in Afghanistan mit der deutschen Bundeswehr zusammenarbeiteten. Man werde alles tun, um diese Menschen in Sicherheit zu bringen, aber: „Das haben wir leider nicht mehr voll in der Hand.“ Ob die Evakuierungen ausgeführt werden können, hänge „von der Lage in Kabul ab“.

Deutsche Kanzlerin Merkel
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Eine größere Zahl an Flüchtlingen aus Afghanistan wird Deutschland laut Kanzlerin Merkel nicht aufnehmen

Neben den Ortskräften will Deutschland laut Merkel insgesamt 1.500 weitere Personen, die etwa bei Frauenrechtsorganisationen und NGOs tätig waren, in Sicherheit bringen. Eine größere Zahl an Flüchtlingen wird Deutschland aber nicht aufnehmen. „Unser Hauptziel ist, denen, die uns direkt geholfen haben, eine Perspektive zu bieten“, stellte Merkel klar. Andere müssten schauen, dass sie in der Region „eine sichere Bleibe finden“. Dafür werde Deutschland auch rasch Nachbarstaaten von Afghanistan Unterstützung anbieten, die Flüchtlinge von dort aufnehmen.

Frankreich will Mitglieder der Zivilgesellschaft aufnehmen

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron kündigte an, bedrohte Mitglieder der afghanischen Zivilgesellschaft aufzunehmen. In Gefahr seien gegenwärtig „Verteidiger der Menschenrechte, Künstler, Journalisten“, so Macron in einer Fernsehansprache. „Wir werden sie willkommen heißen, denn es ist eine Ehre für Frankreich, an der Seite derjenigen zu stehen, die für die Freiheit kämpfen.“ Zudem warnte Macron, Afghanistan könne wie in der Vergangenheit ein Refugium für Terrorgruppen werden.

Großbritanniens Außenminister Dominic Raab machte indes Sanktionen gegen ein von den Taliban regiertes Afghanistan vom Verhalten der Islamisten abhängig. Seine Regierung prüfe, welche Zusagen man mit Blick auf Flüchtlinge machen werde, sagte Raab. Aus der US-Regierung hieß es indes, die Taliban werden keinen Zugriff auf afghanische Vermögenswerte erhalten. „Zentralbankreserven der afghanischen Regierung, die in den USA liegen, werden den Taliban nicht zur Verfügung gestellt“, sagte ein Regierungsvertreter.

UNO: Menschenrechtsverletzungen verhindern

Der UNO-Sicherheitsrat forderte die sofortige Einstellung aller Kämpfe in Afghanistan. Durch Verhandlungen müsse eine neue „geeinte, inklusive, repräsentative“ Regierung gebildet werden, an der auch Frauen beteiligt sein müssten, hieß es. Zudem dürfe es nicht mehr zu Menschenrechtsverletzungen kommen. Alle Konfliktparteien müssten darüber hinaus sofort einen ungehinderten und sicheren humanitären Zugang ermöglichen.

EU berät über Krise in Afghanistan

Am Dienstag beraten die europäischen Außenministerinnen und Außenminister über die derzeitige Situation in Afghanistan.

Die Außenministerinnen und Außenminister der EU-Staaten werden am Dienstag zu einer virtuellen Konferenz zusammenkommen. Auch die NATO tagt. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) will indes beim Sonderrat der EU-Innenministerinnen und Innenminister Abschiebezentren um Afghanistan vorschlagen. Der britische Premier Boris Johnson plant die Einberufung eines virtuellen Treffens der sieben führenden Industriestaaten (G-7) zur Situation in Afghanistan.

Russland: Lage stabilisiert sich

Russland sprach indes von einer „Stabilisierung“ der Lage in Kabul. Die radikalislamischen Kämpfer hätten begonnen, „die öffentliche Ordnung wiederherzustellen“, erklärte das russische Außenministerium. Zudem hätten sie für die Sicherheit der örtlichen Zivilbevölkerung und der diplomatischen Vertretungen garantiert.

Nach Angaben seines Außenministeriums steht Russland bereits in direktem Kontakt mit „Vertretern der neuen Behörden“ in Kabul. Botschafter Dmitri Schirnow will sich am Dienstag mit dem Sicherheitskoordinator der Taliban treffen. Die Taliban hätten bereits mit der Bewachung der Botschaft begonnen, sagte er russischen Staatsmedien. Die russische Regierung will eine Anerkennung der neuen Machthaber von deren „Verhalten“ abhängig machen. China dagegen erklärte sich als erstes Land zu „freundlichen Beziehungen“ mit den Taliban bereit.

Außenansicht des Moskauer Kremls
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Moskau steht bereits in Kontakt mit den Islamisten

Eine Chance für einen „dauerhaften Frieden“ in Afghanistan sah auch der neue iranische Präsident Ebrahim Raisi. Der ultrakonservative Politiker sagte, die „Niederlage und der Rückzug der USA“ aus Afghanistan „sollten eine Gelegenheit schaffen, Leben, Sicherheit und dauerhaften Frieden in diesem Land wiederherzustellen“.

Die im Gazastreifen regierende radikalislamische Hamas gratulierte den Taliban zu ihrem „Sieg“ in Afghanistan. Er sei das „Ergebnis ihres langen Kampfes der vergangenen 20 Jahre“, erklärte die palästinensische Gruppe, die von den westlichen Ländern und Israel als Terrororganisation eingestuft wird.