Mullah Baradar Akhund umgeben von anderen Taliban
Reuters/Social Media
Zurück an der Macht

Die Anführer des Taliban-Netzwerks

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden.

Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban-Führer auch nach außen auf. Am Dienstag traf Baradar laut Medienberichten aus seinem Exil in Katar in Afghanistan ein und wurde in Kandahar von jubelnden Anhängern empfangen.

Der Mitbegründer der Miliz wuchs in der südafghanischen Metropole Kandahar auf, der späteren Geburtsstadt der Miliz. Als Aufständischer trat er erstmals während der sowjetischen Invasion Ende der 70er Jahre in Erscheinung. Er soll damals gemeinsam mit dem berüchtigten einäugigen Kleriker Mullah Omar gekämpft haben.

Inmitten des afghanischen Bürgerkriegs, der auf die Sowjetinvasion folgte, gründeten Omar und Baradar Anfang der 1990er Jahre die Taliban-Miliz. Nach der US-geführten Invasion und dem Sieg über die Taliban 2001 gehörte Baradar mutmaßlich zu einer kleinen Gruppe innerhalb der Miliz, die dem afghanischen Interimspräsidenten Hamid Karzai eine Vereinbarung vorschlug, die eine Anerkennung der Regierung in Kabul durch die Taliban vorgesehen hätte.

Abkommen von Doha mitverhandelt

2010 wurde Baradar in Pakistan verhaftet. 2018 wurde er auf Druck der USA freigelassen und nach Katar überführt. Dort steht Baradar dem politischen Büro der Taliban vor, für das er im Februar 2020 die Unterzeichnung des unter dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump verhandelten Abkommens von Doha verantwortete. Baradar war es auch, der am Sonntag in einer Videobotschaft die Eroberung Kabuls und damit ganz Afghanistans verkündete.

Mutlaq al-Qahtani und Mullah Abdul Ghani Baradar in Doha
APA/AFP/Karim Jaafar
2020 unterzeichnete Baradar in Doha das Abkommen, das den Weg für den US-Truppenabzug ebnete

„Anführer der Gläubigen“: Hibatullah Akhunzada

Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Hibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia-Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird.

Mullah Haibatullah Akhundzada
Reuters/Social Media
Hibatullah Akhundzada, seit 2016 Taliban-Führer

Bis zum Tod des Talbian-Führers Mansoor Akhtar bei einem US-Drohnenangriff im Mai 2016 war Akhundzada ein islamistischer Prediger ohne internationale Bekanntheit. Seine Ernennung wurde als Zeichen dafür gewertet, dass er vor allem als ideologische Führungsfigur und weniger als militärischer Kommandeur der Taliban dienen sollte.

Haqqani: Per Kopfgeld gesucht

Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben, darunter den 2014 freigelassenen US-Soldaten Bowe Bergdahl.

Dem Haqqani-Netzwerk wird ein hohes taktisches Geschick im Kampf, aber auch bei geschäftlichen Deals nachgesagt. Vermutet wird, dass es die Taliban-Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht.

Yaqoob, der älteste Sohn des langjährigen Taliban-Führers Omar, ist ein weiterer Stellvertreter. Mit ihm soll der Mythos seines Vaters, der 2013 im Versteck an Tuberkulose verstorben sein soll, als identitätsstiftendes Bindeglied am Leben gehalten werden. Er soll etwa Mitte 30 sein und die Milizen steuern.

Mohammad Abbas Stanikzai
Reuters/Evgenia Novozhenina
Der ehemalige Taliban-Minister Sher Mohammad Abbas dürfte auch in der neuen Regierung eine Rolle spielen

Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. Der fast 60-Jährige ist leicht erkennbar an seinen markanten Brillen im 70er-Jahre-Stil. In der Taliban-Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an.

Sprecher zeigt erstmals sein Gesicht

Am Dienstag trat zudem erstmals ein offenkundig hochrangiger Taliban in Erscheinung, der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz im Kontakt mit Reportern stand, sein Gesicht bisher jedoch nie in der Öffentlichkeit gezeigt hatte. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug Zabihullah Mujahid versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an – „wir wollen keine internen oder externen Feinde“, so Mujahid.

Journalisten, die mit ihm zuvor schon Kontakt per Telefon und SMS hatten, erklärten laut BBC, dass diese Botschaften teilweise im eklatanten Widerspruch zu seiner früheren, deutlich bedrohlicheren Kommunikation stünden. Auch habe es immer Gerüchte gegeben, dass Mujahid nicht eine Person, sondern ein Deckname sei. Überrascht zeigten sich einige auch vom Alter des Sprechers – er wirke viel zu jung, um seit so vielen Jahren den Kontakt zu Medien gehalten zu haben.

Stärke der Taliban-Kampftruppen unklar

Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind.