Britische und US-Soldaten mit flüchtenden Menschen auf dem Flughafen in Kabul
AP/Ministry of Defence
Flughafen in Kabul

Chaos und US-Warnung vor Anschlag

Tausende Menschen sind seit der Machtübernahme der Taliban aus Afghanistan ausgeflogen worden. Auf dem Flughafen der Hauptstadt Kabul hoffen Tausende weitere nach wie vor darauf, noch in Sicherheit gebracht zu werden. Es ist ein Rennen gegen die Zeit, das große Risiken birgt: Nun wird gar vor der Gefahr eines Anschlags der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gewarnt.

Der Sender CNN berichtete am Samstag unter Berufung auf ungenannte US-Verteidigungsquellen von der Gefahr eines Anschlags der Terrormiliz IS auf den Kabuler Flughafen und dessen Umgebung. Das US-Militär bemühe sich daher, Amerikanern, anderen Ausländern und afghanischen Mitarbeitern der US-Regierung „alternative Routen“ zum Flughafen aufzuzeigen. Die Taliban seien sich der Bemühungen bewusst und stimmten sich mit den US-Vertretern ab. Die Taliban und der regional aktive Zweig des IS sind tief verfeindet und haben in der Vergangenheit gegeneinander gekämpft.

Die deutsche und die amerikanische Botschaft in Kabul rieten ihren Staatsbürgern am Samstag von Versuchen ab, den Flughafen zu erreichen. „Derzeit ist es grundsätzlich sicherer, zu Hause oder an einem geschützten Ort zu bleiben“, schrieb die deutsche Botschaft an Landsleute. Die US-Botschaft rief Amerikaner dazu auf, den Flughafen aufgrund möglicher Sicherheitsbedrohungen zu meiden.

Verzweiflung in Kabul

Die EU-Kommission ruft dazu auf, sich auf mögliche Fluchtbewegungen vorzubereiten. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) spricht sich weiterhin klar gegen die Aufnahme von Menschen aus, die aus Afghanistan flüchten. Auf dem Flughafen von Kabul gibt es wieder Tote.

Tote bei Gedränge auf Flughafen

Die Lage auf dem Flughafen ist weiterhin angespannt – die britische Regierung meldete, dass im Gedränge rund um den Flughafen sieben Menschen ums Leben kamen. Zuvor hatte bereits ein Korrespondent des britischen Senders Sky News von chaotischen Szenen vor den Toren des Flughafens berichtet, bei denen Menschen am Samstag „gequetscht“ worden seien. Viele seien dehydriert und verzweifelt gewesen.

Augenzeugen berichteten Sonntagfrüh auch, die Taliban hätten eine Art Ordnung rund um den Flughafen von Kabul hergestellt. Zudem würden nach wie vor – ungeachtet großer Hitze und andauerndem Chaos – Menschen in großen Mengen zu den Eingängen des Flughafens kommen. Die Taliban machten die US-Streitkräfte für die chaotischen Szenen verantwortlich. „Amerika, mit all seiner Macht und seinen Möglichkeiten“, habe es nicht geschafft, „Ordnung auf dem Flughafen zu schaffen“, sagte der hochrangige Taliban-Beamte Amir Khan Mutaki am Sonntag. „Im ganzen Land herrscht Frieden und Ruhe, nur auf dem Flughafen von Kabul herrscht Chaos“, fügte er hinzu.

Ein Mitglied der Kulturkommission der Taliban, Abdul Kahar Balchi, sagte dem TV-Sender al-Jazeera am Sonntag, man habe eine „Arbeitsbeziehung“ mit den USA bezüglich der Sicherheitsvorkehrungen auf dem Flughafen in Kabul. Die Posten außerhalb des Flughafengeländes seien unter Kontrolle der Islamisten, jene innerhalb kontrollierten die US-Streitkräfte. „Sie stehen in ständigem Kontakt miteinander“, sagte der Sprecher weiter.

Stockende Evakuierung

Die Evakuierung von Schutzsuchenden durch die deutsche Bundeswehr geriet am Samstag inmitten der chaotischen Verhältnisse am Flughafen zwischenzeitlich ins Stocken. Grund dafür war nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums, dass es in Katar keine Kapazität mehr gegeben habe, die Ankunft und Weiterreise weiterer Reisender abzuwickeln. Deshalb versuchen die USA weitere Länder dafür zu gewinnen, aus Afghanistan ausgeflogene Menschen vorübergehend aufzunehmen und eine sichere Durchreise zu organisieren.

Flüchtenden Menschen werden am Flughafen Kabul von US-Soldaten evakuiert
Reuters/Us Air Force
Die Evakuierungen gerieten zwischenzeitlich immer wieder ins Stocken

Die USA verpflichteten auch Fluggesellschaften wie United, American Airlines und Delta zur Beförderung von Menschen, die aus Afghanistan in Sicherheit gebracht wurden. 18 zivile Flugzeuge sollen die Menschen auf US-Stützpunkten außerhalb Afghanistans aufnehmen, wie ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums sagte.

Zeit läuft ab

Das Zeitfenster für weitere Evakuierungen aus Kabul wird immer kleiner. Die USA wollten eigentlich zum 31. August den Abzug ihrer Truppen abschließen. Eine Fortführung des Evakuierungseinsatzes ohne die USA gilt als ausgeschlossen. Der Außenbeauftragte Josep Borrell hielt es am Samstag nicht für möglich, bis Ende August alle Ortskräfte der USA und anderer NATO-Staaten auszufliegen. Borrell machte die strengen Sicherheitsvorkehrungen des US-Militärs mitverantwortlich für die dramatische Situation.

Afghanische Ortskräfte der EU, die das Land verlassen wollen, hätten Schwierigkeiten, auf das Flughafengelände zu gelangen. Borrell schloss sich den Forderungen mehrerer NATO-Staaten an, den Evakuierungseinsatz über Ende August hinaus zu verlängern. „Wenn die Amerikaner am 31. August abziehen, haben die Europäer nicht die militärische Kapazität, den Militärflughafen zu besetzen und zu sichern, und die Taliban werden die Kontrolle übernehmen“, warnte Borrell.

Auch Großbritannien setzt sich dafür ein, die Rettungsmission über den 31. August hinaus zu verlängern. „Vielleicht dürfen die Amerikaner länger bleiben, dann werden sie unsere volle Unterstützung haben, wenn sie das tun“, schrieb der Verteidigungsminister Ben Wallace am Sonntag in einem Gastbeitrag in der „Mail on Sunday“. Die britische „Times“ hatte bereits am Samstag unter Berufung auf Regierungskreise berichtet, dass London sich in Washington dafür starkmachen will, den Einsatz auszuweiten. US-Präsident Joe Biden wollte sich bisher aber nicht auf eine Verlängerung festlegen.

Berlin zahlt bleibewilligen Ortskräften Jahresgehalt

Deutschland bemüht sich aber gleichzeitig offenbar darum, bleibewillige Ortskräfte in Afghanistan zu belassen. Die deutsche Entwicklungshilfeagentur GIZ zahlt afghanischen Ortskräften, die das Land nicht verlassen wollen, ein Jahresgehalt im Voraus. Einen entsprechenden „Spiegel“-Bericht bestätigte das Entwicklungsministerium am Sonntag. Es machte aber auch deutlich, dass die afghanischen Mitarbeiter damit nicht zum Bleiben gedrängt werden sollen. Aus rechtlichen Gründen müssten sie zwar im Gegenzug versichern, sich nicht in das Programm für die Rückführung von Ortskräften aufnehmen zu lassen. „Sollten die Ortskräfte aber ihre Meinung ändern, insbesondere wenn sich die Gefährdungslage ändert, dann können sie sich immer noch auf die Ausreiseliste setzen lassen“, sagte ein Ministeriumssprecher.

Warnung vor „humanitärer Katastrophe“

Vor knapp einer Woche hatten die Taliban Kabul eingenommen und die Macht übernommen. Seitdem fürchten Oppositionelle, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und auch Ortskräfte, die für westliche Staaten tätig waren, Racheaktionen. Es ist weitgehend unklar, wie die Islamisten dieses Mal herrschen werden. Es wird befürchtet, dass die Extremisten wieder ein islamisches „Emirat“ errichten wollen und dabei mit drakonischen Strafen gegen Andersdenkende vorgehen.

Das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen warnt angesichts der Entwicklung in Afghanistan vor einer „humanitären Katastrophe“. Das WFP schätzt, dass von den etwa 38 Millionen Menschen in Afghanistan heute schon 14 Millionen nicht genug zu essen haben. Das Land wird auch von einer schweren Dürre geplagt. Auch das Bargeld scheint inzwischen auszugehen. Einwohner Kabuls berichteten der dpa, die Geldautomaten in der Stadt seien praktisch leer. Banken und auch der Geldwechslermarkt seien seit einer Woche geschlossen.