Sitzung des UNO-Menschenrechtsrates in Genf
Reuters/Denis Balibouse
UNO

Taliban verüben Hinrichtungen

Nach der Machtübernahme der militant-islamistischen Taliban in Afghanistan werden schwere Verletzungen von Menschenrechten aus dem Krisenstaat gemeldet, wie die UNO am Dienstag bekanntgegeben hat. Laut diesen Berichten gab es etwa standrechtliche Hinrichtungen von Zivilisten und Zivilistinnen sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte. Unterdessen begannen die Taliban einem Medienbericht zufolge mit der Regierungsbildung.

Auch der Bewegungsspielraum von Frauen sei in manchen Regionen eingeschränkt worden, Mädchen dürften teils nicht mehr in die Schule gehen. Das berichtete die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, bei einer Sondersitzung des UNO-Menschenrechtsrats zur Lage in Afghanistan am Dienstag in Genf. Friedliche Proteste würden unterdrückt und Minderjährige zum Waffendienst geholt. Die Berichte seien glaubhaft, so Bachelet.

„Es bestehen gravierende Risiken für Frauen, Journalisten und die neue Generation von Leitfiguren der Zivilgesellschaft, die in den vergangenen Jahren in Erscheinung traten“, sagte Bachelet: „Afghanistans unterschiedliche ethnische und religiöse Minderheiten sind ebenfalls der Gefahr von Gewalt und Unterdrückung ausgesetzt, bedenkt man die Muster schwerer Menschenrechtsverletzungen unter Taliban-Herrschaft in der Vergangenheit und Berichte über Tötungen und gezielte Anschläge in den vergangenen Monaten.“

Mitglieder der Taliban halten in der afghanischen Hauptstadt Kabul ein Fahrzeug auf
Reuters
Bachelet zufolge gibt es glaubwürdige Berichte über schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban

Interventionen „unter dem Banner von Demokratie“

Das Vorgehen der Taliban müsse systematisch und engmaschig beobachtet werden, forderte Bachelet. „Ich fordere die Taliban nachdrücklich auf, sich Normen für eine verantwortungsvolle Staatsführung und die Menschenrechte zu eigen zu machen und auf die Wiederherstellung des sozialen Zusammenhalts und die Versöhnung hinzuarbeiten“, sagte Bachelet. Ein zentraler Punkt sei dabei die Achtung der Rechte von Frauen und Mädchen in Hinsicht auf „Freiheit, Bewegungsfreiheit, Bildung, Selbstbestimmung und Arbeit“.

Erratum

UNO-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet berichtete am Dienstag über schwere Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban in Afghanistan. Aufgrund eines Übersetzungsfehlers der Deutschen Presse-Agentur (dpa) fand sich in diesem ORF.at-Artikel dazu – wie in vielen anderen Medien – das Wort „Massenhinrichtungen“. Tatsächlich war von standrechtlichen Hinrichtungen von Zivilisten durch die Taliban die Rede. Über die Anzahl der Tötungen ist noch nichts bekannt. ORF.at korrigierte den Fehler am Dienstagabend.

China erhob hingegen scharfe Vorwürfe gegen westliche Soldaten: „Die USA, Großbritannien, Australien und andere Länder müssen für Menschenrechtsverletzungen durch ihre Soldaten in Afghanistan zur Rechenschaft gezogen werden“, sagte der Botschafter der Volksrepublik, Chen Xu. „Unter dem Banner von Demokratie und Menschenrechten intervenieren die USA und andere Länder militärisch in souveränen Staaten, die eine ganz andere Geschichte und Kultur haben, und stülpen ihnen ihr eigenes Modell über.“ Das habe großes Leid gebracht und müsse bei der laufenden Sitzung besprochen werden.

Staats- und Regierungschefs der G-7 beraten über Lage

Unterdessen beraten die Staats- und Regierungsspitzen der G-7 am Dienstag auf einem virtuellen Krisengipfel über die Lage in Afghanistan. Der britische Premierminister Boris Johnson will dabei mit US-Präsident Joe Biden über eine Verlängerung des US-Einsatzes zur Rettung Zehntausender Menschen aus der afghanischen Hauptstadt Kabul über August hinaus sprechen.

Zwar wurden inzwischen fast alle EU-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter sowie ihre Familien ausgeflogen, eine Rettung aller Schutzbedürftigen aus Afghanistan bis Ende August halten die EU und Großbritannien angesichts der chaotischen Zustände auf dem Flughafen aber für nicht machbar. Und ohne die US-Militärpräsenz in Kabul müssten eben auch die anderen westlichen Staaten ihre Evakuierungen einstellen.

Taliban wollen keine Evakuierung nach 31. August

Die Taliban drohten indes mit „Konsequenzen“, sollten die westlichen Staaten ihre Truppen nicht bis zum 31. August vom Kabuler Flughafen abziehen. Bei einer Pressekonferenz sagte der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid, er glaube, dass die Frist nicht über August hinaus verlängert werde.

Die US-Streitkräfte werden zudem aufgefordert, bei ihren Rettungseinsätzen keine weiteren afghanischen Fachkräfte außer Landes zu fliegen. Mujahid bezog sich damit auf afghanische Experten wie beispielsweise Ingenieure. Nur Ausländer dürften von den westlichen Einsatzkräften aus Kabul ausgeflogen werden.

Bericht: CIA-Direktor traf Taliban-Vizechef in Kabul

Die US-Regierung steht angesichts der Evakuierungsmission in regelmäßigem Austausch mit den Taliban. So traf etwa der Direktor des US-Auslandsgeheimdienstes CIA, William Burns, einem Medienbericht zufolge den Vizechef der Taliban, Abdul Ghani Baradar, zu einem persönlichen Gespräch.

Die beiden seien am Montag in der afghanischen Hauptstadt Kabul zusammengekommen, schrieb die „Washington Post“ am Dienstag unter Berufung auf Regierungskreise. Es sei das bisher höchstrangige Treffen zwischen der Regierung von US-Präsident Joe Biden und den Taliban gewesen, seitdem die Islamisten vor gut einer Woche die Macht in Afghanistan übernommen haben. Baradar wird als möglicher künftiger Regierungschef gehandelt.

EU-Hilfsgelder: Achtung der Menschenrechte als Bedingung

Die Europäische Union vervierfacht ihre Hilfsgelder für afghanische Staatsbürger auf mehr als 200 Millionen Euro, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf Twitter ankündigte. Die Mittel würden zusätzlich zu den Hilfszusagen der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellt. Offiziell werde sie das Vorhaben auf dem virtuellen G-7-Gipfel vorstellen.

Das Geld solle den Menschen innerhalb und außerhalb ihres Heimatlandes zugutekommen, so die Kommissionspräsidentin. Ein EU-Vertreter fügte hinzu, zur Bedingung für die Auszahlung werde die Achtung der Menschenrechte und insbesondere der Rechte von Frauen gemacht. Danach werde entschieden, ob das Geld direkt nach Afghanistan oder in benachbarte Regionen fließe.

Der kanadische Premierminister Justin Trudeau hat sich für Sanktionen gegen die Taliban ausgesprochen. „Wir sind dabei, weitere Sanktionen in Betracht zu ziehen“, sagte er. Die Taliban würden in Kanada bereits als terroristische Vereinigung eingestuft, „aber wir werden mit unseren G-7-Partnern über die nächsten Schritte sprechen“.

Taliban stellen neue Regierung zusammen

Unterdessen stellen die Taliban einem Medienbericht zufolge eine neue Regierung zusammen. Finanzminister werde Gul Agha, meldete die afghanische Nachrichtenagentur Pajhwok. Zum amtierenden Innenminister sei Sadr Ibrahim ernannt worden. Auch der Geheimdienst erhalte eine neue Spitze. Neuer Gouverneur der Provinz Kabul sei Mullah Shirin, Bürgermeister der gleichnamigen Hauptstadt sei Hamdullah Nomani. Auch der Geheimdienst habe eine neue Spitze erhalten. Weitere Details wurden noch nicht bekannt.

Auch sollen die Taliban nach Angaben eines Sprechers in Nordafghanistan drei Bezirke erobert haben, die unter die Kontrolle lokaler Milizen gefallen waren. Dabei gehe es um die Bezirke von Badakhshan, Takhar und Andarab. Der dortige Widerstand war das erste Zeichen, dass es bewaffnete Gegenwehr gegen die Machtergreifung durch die Taliban gibt. Die afghanische Armee hatte viele Regionen des Landes und auch Kabul weitgehend kampflos aufgegeben.

Russland bringt Panzerabwehr nach Zentralasien

Angesichts der Machtübernahme der Taliban rüstete Russland seine Militärbasis im zentralasiatischen Tadschikistan auf. Es seien mehrere Panzerabwehrsysteme des Typs „Kornet“ in die an Afghanistan grenzende Ex-Sowjetrepublik gebracht worden, teilte der Zentrale Wehrbezirk der russischen Armee am Dienstag mit. Mit Hilfe von „Kornet“ sollen feindliche gepanzerte Fahrzeuge sowie Ziele in der Luft mit Raketen abgeschossen werden können.

Russland, das in Tadschikistan seine größte Auslandsbasis hat, beobachtet den Siegeszug der Taliban in Afghanistan mit Sorge. Befürchtet wird unter anderem, dass Kämpfer in Zentralasien in ehemals sowjetisches Gebiet eindringen könnten. Moskau führt seit Langem Verhandlungen mit den Taliban.