Menschen steigen in eine Militärmaschine
APA/AFP/Etat Major des Armées
Flughafen Kabul

Entsetzen und Angst nach IS-Anschlag

Der Doppelanschlag der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) nahe dem Flughafen Kabul hat international Bestürzung ausgelöst. Noch immer warteten zahlreiche Menschen darauf, einen der letzten Flüge ins Ausland zu ergattern. Das US-Militär rechnet nun mit weiteren Attacken. Die USA wollen bis Ende der Frist am Dienstag weiterhin Menschen ausfliegen und drohen Terroristen mit Vergeltung.

Zahlreiche Tote, darunter 13 US-Militärangehörige: Der Abzug aus Afghanistan gestaltet sich für die USA und die NATO zum Alptraum. Am Donnerstag sprengten sich nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums mindestens zwei Selbstmordattentäter in die Luft. Eine Reihe von Kämpfern des IS habe anschließend das Feuer auf Zivilisten und Soldaten eröffnet, sagte US-General Kenneth McKenzie, der das US-Zentralkommando Centcom führt.

Insgesamt dürften bei der Explosionen vor dem Flughafen mehr als 100 Menschen ums Leben gekommen sein. Ein Krankenhaus- und ein Taliban-Vertreter sprachen von mindestens 72 toten Zivilisten. Laut den Taliban kamen auch 28 ihrer Mitglieder bei der Explosion ums Leben. Hinzu kommen zahlreiche Menschen, die bei dem Anschlag verletzt wurden. Das US-Verteidigungsministerium erklärte, es seien auch 18 Soldaten verwundet worden. Die Verletzten würden in speziell ausgerüsteten Flugzeugen ausgeflogen, hieß es.

Explosion nahe Flughafen in Kabul

Außerhalb des Flughafens der afghanischen Hauptstadt Kabul ist es zu einer Explosion gekommen mit mindestens 13 Todesopfern. Ersten Meldungen zufolge soll es sich um ein Selbstmordattentat handeln. Mehrere westliche Staaten setzen ihren frühzeitigen Evakuierungsstopp fort und begründen ihn mit erhöhter Terrorgefahr am Flughafen Kabul.

IS-Ableger reklamiert Anschlag für sich

Der in Afghanistan aktive IS-Ableger Provinz Khorasan (ISKP) reklamierte den Anschlag für sich. Der IS gab in einer Erklärung über sein Propagandasprachrohr Amak an, es seien rund 60 Menschen gestorben. Ein ISKP-Kämpfer habe alle Sicherheitsabsperrungen überwinden und sich US-Soldaten nähern können. Er habe dann seine Sprengstoffweste detonieren lassen, hieß es in der Stellungnahme des IS.

Der IS und die Taliban, die kürzlich die Macht in Afghanistan übernommen haben, sind miteinander verfeindet. Seit Tagen gab es Warnungen, der IS plane Attentate auf den Flughafen, auf dem immer noch zahlreiche Menschen warteten. Die Taliban gaben an, auch sie hätten die ausländischen Kräfte gewarnt, dass wegen der großen Menschenmengen keine Sicherheitsvorkehrungen möglich seien.

Der Sprecher des politischen Büros der Taliban in Doha, Suhail Schahin, erklärte, man verurteile den grausamen Vorfall aufs Schärfste und werde alles unternehmen, um die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Er bestätigte, dass sich zwei Explosionen ereigneten. Eine fand an einem der Flughafentore statt, eine weitere beim nahe gelegen Baron Hotel.

Biden droht Terroristen

US-Präsident Joe Biden erneuerte nach den Anschlägen sein Versprechen, alle ausreisewilligen Amerikaner aus Afghanistan zu holen. „Wir werden sie finden, und wir werden sie da rausholen“, sagte Biden am Donnerstag (Ortszeit) in einer Ansprache im Weißen Haus. Den Terroristen drohte er mit Vergeltung. „Wir werden nicht vergeben. Wir werden nicht vergessen“, so Biden. „Wir werden euch jagen und euch büßen lassen.“ Biden würdigte die Soldaten als „Helden“. Sie seien an einer „gefährlichen, selbstlosen Mission“ beteiligt gewesen, „um das Leben von anderen zu retten“.

In seiner Anspreche bekräftigte Biden, der laufende Evakuierungseinsatz zur Rettung von US-Bürgern und afghanischen Ortskräften werde fortgesetzt. Auch der US-Präsident machte den IS-Ableger Provinz Chorasan für den Doppelanschlag verantwortlich.

Joe Biden
AP/Evan Vucci
Biden drohte den Terroristen. Wegen des chaotischen Abzugs steht er unter Druck.

Inzwischen beendeten viele der Partnerstaaten die Evakuierungsmission. Deutschland flog am Donnerstag alle Bundeswehrsoldaten, Diplomaten und verbliebenen Polizisten aus dem Krisenstaat aus, wie Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte. Auch Belgien, Dänemark, Polen und Kanada stellten ihre Evakuierungen ein, Frankreich plante das für Freitag.

Weitere Attacken erwartet

Einige internationale Partner hatten die USA zu einer Verlängerung des Einsatzes aufgefordert, um noch mehr Zeit für die Evakuierungen zu haben. Der Militäreinsatz ist von den US-Truppen abhängig. Das lehnen die USA aber ab, ebenso die Taliban.

US-Sperrzone Flughafen Kabul mit ungefährer Lage des Hotels Baron

Das US-Militär rechnete auch weiter mit Anschlägen. „Wir glauben, es ist ihr Wunsch, diese Angriffe fortzusetzen, und wir rechnen damit, dass sich diese Angriffe fortsetzen werden“, sagte General McKenzie. „Wir tun alles, was wir können, um auf diese Angriffe vorbereitet zu sein.“ Dazu gebe es auch Gespräche mit den Taliban, die für die Sicherheit außerhalb des Flughafens verantwortlich seien. McKenzie ging davon aus, dass noch rund 1.000 US-Bürger in Afghanistan seien.

EU ruft zu Kampf gegen Terror auf

Die Spitzen der EU riefen zu einer entschlossenen Fortsetzung des Kampfes gegen den Terrorismus auf. „Die internationale Gemeinschaft muss eng zusammenarbeiten, um ein Wiederaufflammen des Terrorismus in Afghanistan und an anderen Orten zu verhindern“, forderte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. EU-Ratspräsident Charles Michel kommentierte: „Wir müssen sicherstellen, dass die derzeitige Instabilität nicht zu einer Wiederholung des Terrorismus führt.“ Beide forderten zudem, alles zu tun, um die Sicherheit der Menschen auf dem Flughafen von Kabul zu gewährleisten. Ein sicherer Zugang bleibe unverzichtbar, so Michel. Der Anschlag wurden von den EU-Spitzen als feige, menschenverachtend und grausam verurteilt.

Analyse zur Lage in Afghanistan

ORF-Auslandsredaktionsschef Andreas Pfeifer und ORF-Korrespondent Christoph Kohl analysieren die Lage in Afghanistan nach der Explosion in der Nähe des Flughafens in Kabul. Ersten Meldungen zufolge soll es sich um Selbstmordattentate handeln, die zahlreiche Todesopfer forderten.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verurteilte die Terroranschläge in Kabul „auf das Schärfste“ und sprach den Familien der Opfer sein Beileid aus. Zugleich hob Macron den „heldenhaften Einsatz“ derjenigen hervor, die sich an Ort und Stelle um den Erfolg der Evakuierungsoperationen bemühten. „Frankreich wird sie bis zum Ende durchziehen und seine humanitären und Schutzbemühungen für die bedrohten Afghanen fortsetzen.“ Auch der britische Premier verurteilte die Tat als „barbarisch“ und sprach den USA sowie „dem afghanischen Volk“ sein Beileid aus.

Keine Hinweise auf Österreicher unter Opfern

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigte sich entsetzt über die jüngsten Ereignisse in der afghanischen Hauptstadt. Priorität der NATO bleibe es, möglichst schnell möglichst viele Menschen in Sicherheit zu bringen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von einem „absolut niederträchtiger Anschlag in einer sehr, sehr angespannten Situation“.

In Österreich zeigte sich das Außenministerium „entsetzt über den grausamen Anschlag“ in Kabul. „Volle Solidarität im Kampf gegen Terrorismus und gewalttätigen Extremismus“, twitterte das Außenministerium. Die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, sah mit dem Anschlag, „die schlimmsten Befürchtungen eingetreten“. Sie forderte, dass weiterhin alles darangesetzt werde, dass auch nach dem Ende der Evakuierungsflüge den Menschen geholfen wird, die dringend Schutz benötigen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sollten ein humanitäres Aufnahmeprogramm starten und Druck auf die Nachbarstaaten Afghanistans machen, damit die Grenzen für Flüchtende nicht geschlossen würden.

Angesichts der chaotischen Situation und angespannten Sicherheitslage in Afghanistan lud UNO-Generalsekretär Antonio Guterres die Vetomächte zu einem Krisentreffen ein. Diplomatenkreisen zufolge sollen die Botschafter der USA, Chinas, Russlands, Großbritanniens und Frankreichs am Montag in New York mit dem UNO-Chef zusammenkommen, um sich über die Lage auszutauschen.