Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundeskanzler Sebastian Kurz
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Kurz bei Merkel

Afghanistan überlagert den Abschied

Ehe Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nach 16 Jahren aus dem Amt scheidet, hat ihr Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) am Dienstag einen Abschiedsbesuch abgestattet. Überlagert war das Treffen von der Debatte über die Aufnahme afghanischer Flüchtlinge – ein Thema, das auch die EU-Innenminister bei einem Sondertreffen in Brüssel beschäftigt.

Sowohl Kurz als auch Merkel betonten in Berlin, sie setzten auf humanitäre Hilfe, damit afghanische Flüchtlinge „in der Nähe ihrer Heimat“ versorgt werden können, wie die Kanzlerin es formulierte. Kurz sagte, Österreich habe die humanitäre Hilfe in der Region „aufgestockt, wie wir es noch nie getan haben“. Man leiste einen „überproportional großen Beitrag“. Gleichzeitig sei man „in intensivem Kontakt mit den Vertretern der (an Afghanistan, Anm.) angrenzenden Staaten“ über die Versorgung von Flüchtlingen.

In der Frage einer möglichen Asylgewährung für afghanische Flüchtlinge in Österreich selbst verwies Kurz jedoch erneut auf die Flüchtlingsaufnahme im Jahr 2015: „Wir haben pro Kopf gerechnet die viertgrößte afghanische Community weltweit.“ Seine Haltung zu dieser Frage sei „bekannt“.

Aufenthaltsrecht für Ortskräfte in Deutschland

Merkel dagegen unterstrich erneut die Bereitschaft ihrer Regierung, Ortskräfte aus Afghanistan nach Deutschland zu bringen, falls sich diese unter der neuen Herrschaft der radikalislamischen Taliban bedroht fühlten. Diese würden dann auch in Deutschland umgehend ein Aufenthaltsrecht bekommen – ohne Asylverfahren, betonte sie. Über etwaige Kontingente gebe es noch „keine Beschlüsse“, es gehe aber um „10.000 bis 40.000 Menschen“, die möglicherweise noch in die Bundesrepublik gebracht werden müssten. Ihre genaue Zahl müsse noch geklärt werden: „Wir müssen das jetzt sichten, wie viele das Land verlassen wollen.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundeskanzler Sebastian Kurz
APA/Georg Hochmuth
Kurz dankte Merkel „für die enormen Leistungen, die hier für die EU weit über Deutschland hinaus erbracht worden sind“

Merkel ist nach eigenen Angaben mit mehreren europäischen Ländern im Gespräch über die Frage, „wie wir gegebenenfalls auch eine temporäre stärkere Präsenz in Kabul oder der Region haben können, um kontinuierliche Gesprächskontakte mit den Taliban überhaupt aufbauen zu können“. Das solle aber keinesfalls auf eine diplomatische Anerkennung der Taliban-Machthaber hinauslaufen, sagte Merkel. „Es geht einfach nur darum, Diplomaten in der Nähe zu haben, die mit den Taliban reden können.“ Die Taliban seien derzeit dabei, ihre Präsenz aus dem Exil in Katar nach Kabul zu verlagern.

Lobende Worte und ein Dauerabo für Salzburg

Kurz würdigte zum Abschied noch den Einsatz von Merkel für Europa. Besonders geschätzt habe er den „unglaublichen Erfahrungsschatz, den Angela Merkel in all die Diskussionen und Debatten eingebracht hat“, sagte Kurz am Dienstag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Merkel in Berlin. Der Europäische Rat verliere mit Merkel „eine Regierungschefin, die die Europäische Union so gestaltet und geprägt hat wie keine andere“.

Auch bilateral wolle er sich für die gute Zusammenarbeit bedanken. In sehr vielen Fragen habe man an einem Strang gezogen, sagte Kurz. Als Abschiedsgeschenk reichte er der musikbegeisterten Merkel eine Dauereinladung für die Salzburger Festspiele auf Lebenszeit. Außerdem erhielt sie eine CD-Box, die zum 100. Jubiläum des Festivals 2020 erschienen ist.

Frankreichs Innenminister Gerald Darmanin und Innenminister Karl Nehammer
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Karl Nehammer bei Beratungen mit seinem französischen Amtskollegen Gerald Darmanin

Nehammer: „Es braucht die Freiwilligkeit“

Kurz wird am Nachmittag in Berlin auch die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) treffen, wo ebenfalls vor allem das Thema Afghanistan erörtert wird. In Brüssel sind Dienstagmittag indessen die EU-Innenminister zu einem Sondertreffen zusammengetroffen. Thema der Beratungen sollen nach Angaben der derzeitigen slowenischen Ratspräsidentschaft unter anderem die möglichen Auswirkungen auf die Terrorgefahr und Migrationsbewegungen in Richtung Europa sein.

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) bekräftigte vor dem Treffen, keine zusätzlichen Afghanen aufnehmen zu wollen. „Es braucht die Freiwilligkeit“, sagte Nehammer in Hinblick auf mögliche EU-Umsiedlungspläne (Resettlement) für afghanische Flüchtlinge. Aber so lange Österreich „so hohe Belastung durch irreguläre Migration“ habe, finde er es „völlig unangemessen, über Resettlement zu reden“.

Der deutsche Innenminister Horst Seehofer sprach sich gegen konkrete Kontingente für schutzbedürftige Menschen aus. „Ich halte es nicht für sehr klug, wenn wir jetzt hier über Zahlen reden, weil Zahlen natürlich etwas auslösen“, sagte der CSU-Politiker vor dem EU-Treffen. Man wolle keinen „Pull-Effekt“ auslösen. Zugleich betonte Seehofer, dass die deutsche Regierung immer Ansiedlungsprogramme für besonders „geschundene Personen“ vereinbart habe. „Dazu sind wir auch bereit“, sagte er.

EU-Kommission sieht Kontingent von 30.000 Menschen

Laut einem EU-Beamten fordert die EU-Kommission, dass die EU-Länder bis 2022 insgesamt 30.000 Menschen neu ansiedeln sollen – und zwar für alle Flüchtlingskategorien, wie das Nachrichtenportal Politico berichtete. Das bedeutet, dass ein neues Neuansiedlungsprogramm speziell für Afghanen, zusätzlich zu diesen 30.000, vorerst nicht in Betracht kommt.

Einigkeit unter den EU-Staaten herrsche darüber, dass sich die starke Fluchtbewegung von 2015 „nie wieder wiederholen“ darf, so Nehammer. Es sei „jetzt wichtig, die richtigen Signale zu senden“. Mit „Hilfe vor Ort“ soll eine „sichere Umgebung“ für Menschen geschaffen werden, die aus Afghanistan rauswollen.

„Verwaschene Botschaften“ habe unterdessen EU-Innenkommissarin Ylva Johansson gesendet. „Wenn wir sagen, es braucht Hilfe vor Ort, kann ich nicht gleichzeitig von sicheren Fluchtrouten nach Europa sprechen“, kritisierte Nehammer erneut. Das nütze nur dem Menschenhandel. „Macht Euch nicht auf den Weg, wir helfen vor Ort, wir unterstützen die Regierungen, aber hier nach Europa zu kommen, ist ein Fehler“, appellierte der Innenminister.

Debatte über EU-Eingreiftruppe

Aus Sicht des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell zeigten die Ereignisse in Afghanistan, dass die Union eine eigene schnelle militärische Eingreiftruppe braucht. Eine solche Eingreiftruppe hätte zum Beispiel genutzt werden können, um nach dem Abzug der USA einen Weiterbetrieb des Flughafens in Kabul für Evakuierungsflüge abzusichern.

Die bisherigen Überlegungen sehen vor, eine rund 5.000 Soldaten starke Einheit zu schaffen, die innerhalb kurzer Zeit in Krisenländer verlegt werden kann. Sie soll zum Beispiel auch im Kampf gegen den internationalen Terrorismus in Ländern wie Mali zum Einsatz kommen können. Berichte, nach denen Borrell sogar eine 50.000 Soldaten starke Einheit anstrebt, wurden am Dienstag nicht bestätigt.

Die bereits existierenden, aber bisher noch nie eingesetzten Krisenreaktionskräfte der EU sollen den Planungen zufolge im Idealfall in die neue Einheit integriert werden. Sie bestehen in der Regel aus zwei „Battlegroups“ mit im Kern jeweils rund 1.500 Soldatinnen und Soldaten, die wechselnd von unterschiedlichen EU-Staaten zur Verfügung gestellt werden.