Ahmad Shah Massoud, 1984
AP/Jean-Luc Bremont
„Löwe von Panjshir“

Ende eines Heldenepos als Auftakt für 9/11

Er ist Afghanistans Nationalheld und hat sowohl im Widerstand gegen die sowjetischen Truppen als auch gegen Islamisten und schließlich die Taliban die tragende Rolle gespielt: Ahmad Shah Massouds Biografie liest sich wie ein fiktionales Heldenepos: ein Muslim, der sich für Demokratie und Frauenrechte starkmachte. Vor genau 20 Jahren starb Massoud bei einem Attentat der Terrororganisation al-Kaida – nicht zufällig genau zwei Tage vor den Ereignissen des 11. September 2001.

Untrennbar ist Massouds Lebensgeschichte mit der Geschichte seines Landes verwoben: Sowohl gegen die Sowjets als auch gegen die Taliban hatte Massoud das Panjshirtal gegen eine Übermacht an Gegnern verteidigt und immer wieder Nadelstiche gegen die Feinde gesetzt. Dazwischen lieferte er sich mit dem Islamisten Gulbuddin Hekmatyar eine blutige Schlacht um Kabul. Als „Löwe von Panjshir“ galt er als Hoffnungsträger für ein einigermaßen demokratisches Afghanistan – und wurde deswegen auch in den Jahren vor seinem Tod vom Westen hofiert.

Massoud gehörte zur tadschikischen Volksgruppe Afghanistans, sein Vater war Oberst in der königlichen afghanischen Armee. 1953 geboren, besuchte er zunächst das französische Lycee in Kabul, um anschließend Architektur zu studieren. Bald schloss er sich der islamistischen Partei Jamiat-e-Islami an und erhielt vom pakistanischen Geheimdienst eine militärische Ausbildung.

Abkehr von islamistischen Ideen

Ebenfalls in dieser Gruppierung fand sich sein späterer Rivale Hekmatyar. Nachdem ein Putschversuch der Gruppe fehlgeschlagen war, wandte sich der Sunnit Massoud, so die Überlieferung, von radikalislamischen Ideen ab. Hekmatyar radikalisierte sich zunehmend, gründete eine eigene Partei und soll bereits 1975 einen ersten Attentatsversuch auf Massoud beauftragt haben. Seiner Gruppe wurde auch vorgeworfen, Säureattentate auf unverschleierte Studentinnen in Kabul verübt zu haben.

Ahmad Shah Massoud repariert ein Sturmgewehr, 1986
AP/Masood Khalili
Massoud 1986

Als sich 1978 die kommunistische Demokratische Volkspartei Afghanistans an die Macht putschte und 1979 die Sowjets in Afghanistan einmarschierten, gehörte Massoud bald zu den zentralen Figuren des Widerstands. Die unterschiedlichen Mudschaheddin-Milizen einte der gemeinsame Feind – und sie wurden aus dem Ausland, vor allem von den USA und von Pakistan stark finanziell und militärisch unterstützt. In den Kampf gegen die sowjetischen Truppen mischten sich auch einige Muslime aus anderen Ländern – unter anderen eine Gruppe rund um einen gewissen Osama bin Laden.

Guerillakrieg gegen die Sowjets

Aus dem Panjshirtal heraus verfolgte Massoud eine Strategie der „aktiven Verteidigung“. Mit gezielten Guerillaangriffen setzte er die Feinde unter Druck und achtete zugleich auf Unterstützung in der Bevölkerung. Seine militärischen Strategien leitete er, so wurde berichtet, aus der Lektüre von Mao Tse-tung und Che Guevara ab. Mehrere Großoffensiven der Sowjets mit Zehntausenden Soldaten konnte Massoud mit nur ein paar tausend Kämpfern abwehren.

Der „Löwe von Panjshir“ wurde er fortan genannt. Das „Wall Street Journal“ nannte Massoud nach dem Abzug der Sowjets 1989 den „Afghanen, der den Kalten Krieg gewonnen hat“, und verwies darauf, wie die Niederlage in Afghanistan den Zerfall der Sowjetunion beeinflusste.

Zeichnung von Ahmad Shah Massoud an einer Wand in Kabul
APA/AFP/Wakil Kohsar
Massouds Antlitz ist – oder war – in Afghanistan omnipräsent

Machtvakuum nach Sowjetabzug

Doch nach dem Abzug der Sowjets kehrte keine Ruhe ein – im Gegenteil: Die kommunistische Regierung von Mohammed Nadjibullah hielt sich bis ins Frühjahr 1992, bis sie fiel. Das Machtvakuum versuchten viele zu nutzen. Beim Peshawar-Abkommen einigten sich schließlich mehrere Mudschaheddin-Gruppen auf eine Übergangsregierung.

Mehrere Quellen berichten, dass Massoud das Amt des Präsidenten ablehnte, angeblich aus der Furcht heraus, als Tadschike bei der paschtunischen Mehrheitsbevölkerung zu sehr zu polarisieren. Das Amt des Verteidigungsministers nahm er an. Doch einer der Warlords boykottierte das Abkommen: Hekmatyar, der sogar als Premierminister vorgesehen war. Mit Unterstützung Pakistans begann er, Kabul zu bombardieren.

Blutiger Bürgerkrieg unter einstigen Bündnispartnern

Ein blutiger Bürgerkrieg zwischen den einzelnen Gruppierungen begann, die sich zumeist durch Region, Volksgruppe und muslimischer Strömung unterschieden und damit auch unterschiedliche internationale Unterstützer hatten: Pakistan, der Iran, Saudi-Arabien und Usbekistan mischten über die von ihnen unterstützten Milizen mit.

Ahmad Shah Masood in Kabul, 1992
AP/Peter Dejong
Massoud in Kabul 1992

Selbst als sich Massoud kurzfristig zurückzog und Hekmatyar tatsächlich Premier wurde, ließ dieser – gemeinsam mit dem mehrmals die Seiten wechelnden Warlord Abdul Rashid Dostum – Kabul weiter bombardieren. Als „Schlächter von Kabul“ ging Hekmatyar in die Geschichte ein. Freimütig bekennt er auch in Interviews, gute Kontakte zu bin Laden gehabt zu haben. Auch in der neuen Netflix-Doku „Wendepunkt: 9/11 und der Krieg gegen den Terror“ durfte er seine Sicht der Dinge darstellen.

Aufstieg der Taliban – mit Hilfe aus Pakistan

Zwischen Bürgerkrieg mit Tausenden Toten und – zumeist von Massoud initiierten – politischen Verhandlungen stieg im Süden des Landes eine neue Macht auf: die Taliban. 1994 hatten sie bereits mehrere Provinzen unter ihrer Kontrolle. Wieder war es vor allem Massoud, der sich dem Gegner in den Weg stellte und ihm mehrere schwere Niederlagen zufügte.

1996 änderten die Taliban ihre Strategie: Sie begannen Anschlagsserien in Kabul und wurden von Pakistan, vom Geheimdienst und namentlich vom Militärstabschef und späteren Präsidenten Pervez Musharraf militärisch unterstützt. Schätzungen zufolge kämpften zwischen 25.000 und 30.000 Pakistaner an der Seite der Taliban. Rund 3.000 Kämpfer aus anderen Ländern schlossen sich den Dschihadisten an, nur etwa 14.000 sollen aus Afghanistan selbst gestammt haben. Unterstützung erfuhren sie – wie heute – vor allem von der kriegsmüden, armen Bevölkerung, allen voran von den Paschtunen, die die größte Volksgruppe in Afghanistan sind.

Hinweis

Der ORF berichtet in einem multimedialen Schwerpunkt über die Ereignisse am 11. September und deren Folgen – mehr dazu in tv.ORF.at.

Schweiz als Vorbild für Massoud

1996 musste Massoud den strategischen Rückzug antreten: Die Taliban unter Mohammed Omar übernahmen Kabul und riefen 1997 das Islamische Emirat Afghanistan aus. Massoud versuchte unterdessen, ins Panjshirtal zurückgezogen, einerseits mit seiner Nordallianz militärisch gegen die Taliban vorzugehen und andererseits neue politische Bündnisse zu schmieden. Tatsächlich gelang es ihm, sowohl das Tal zu verteidigen als auch alle Ethnien an einen Tisch zu bekommen. Laut mehreren Quellen sah er die Verfassung der Schweiz als mögliches Vorbild, die unterschiedlichen Volksgruppen in einem gemeinsamen Staat zu organisieren.

Ahmad Shah Massoud
APA/AFP/Joel Robine
Massoud bei einem Interview kurz vor seinem Tod

Demokratie und Frauenrechte als Ziel

Spätestens da wurde auch die westliche Politik auf Massoud aufmerksam. Zuvor waren vor allen die USA skeptisch gewesen, zwar wurde auch er im Kampf gegen die Sowjets unterstützt, war aber offenbar kaum zu verbindlichen Gegengeschäften bereit. Angesichts der Gräueltaten der Taliban schöpfte der Westen mehr und mehr Vertrauen: Er war der einzige Protagonist in den Wirren Afghanistans, unter dessen Kommando keine Gräueltaten und Massaker dokumentiert wurden. Und auch sein Einsatz für Frauenrechte und ein demokratisches System wurde gewürdigt.

Seine 3.000 Bände umfassende Privatbibliothek und die Tatsache, dass er mehrere Sprachen sprach, brachten ihm den Ruf ein, nicht nur Kriegsherr und Politiker, sondern schon fast ein Intellektueller zu sein. Ein ähnliches Bild zeichnen mehrere Biografien, etwa jene des brasilianischen Journalisten Pepe Escobar, aber auch jene, die Massouds Ehefrau Sediqa gemeinsam mit zwei Frauenrechtlerinnen verfasst hat.

Spät, aber doch hofierte ihn dann der Westen: Im April 2001 sprach er vor dem Europaparlament in Brüssel. Dabei warnte er davor, dass laut seinen Quellen al-Kaida demnächst einen großen Anschlag in den USA planen könnte.

Ahmad Shah Masood und Javier Solana in Brüssel
Reuters
Massoud in Brüssel im Gespräch mit dem damaligen EU-Außenbeauftragten Javier Solana

Falle der al-Kaida

Am 9. September 2001 empfing Massoud zwei angeblich aus Belgien stammende Journalisten. Diese hatten zunächst schon mit anderen führenden politischen Personen Afghanistans Interviews geführt – nur zu ihrer Tarnung, wie sich herausstellen sollte. Während des Interviews detonierte eine in einer Kamera versteckte Bombe. Viele Attentatsversuche hatte er überlebt, doch diesmal gelang es seinen Widersachern: Massoud verstarb auf dem Weg in ein Spital in Tadschikistan. Er wurde 48 Jahre alt.

Nicht nur westliche Länder wie Frankreich reagierten bestürzt auf den Tod Massouds. Sogar die Regierungen des Iran und Russlands setzten Kondolenzschreiben auf – und das, obwohl sie ihn lange Zeit als Feind betrachtet hatten.

Von bin Laden persönlich angeordnet?

Lange sollte der Anschlag aber nicht in den Schlagzeilen bleiben: Zwei Tage später erlebte die Welt den bisher größten Terroranschlag auf westlichem Boden: die Attacken auf das World Trade Center und das Pentagon. Und erst später stellte sich heraus, dass die beiden Ereignisse wohl irgendwie miteinander verknüpft waren.

Massouds Attentäter, die den Anschlag nicht überlebten, wurden bis heute nicht vollständig gesichert identifiziert. Fest steht, dass es zwei Tunesier waren, die im Auftrag von al-Kaida das Attentat durchführten. Mehrere Quellen behaupten, bin Laden habe den Anschlag persönlich angeordnet. Gründe dafür gibt es einige: Massouds militärische wie diplomatische Fortschritte bedrohten das Taliban-Regime, das bin Laden Schutz bot. Schon aus Eigeninteresse war es ihm ein Anliegen, dass die Taliban an der Macht bleiben.

Beerdigung von Ahmad Shah Massoud, 2001
AP/Jean-Luc Bremont
Massoud wurde im Panjshirtal beigesetzt, Tausende nahmen an dem Begräbnis teil

Erst die spät von der US-Regierung freigegebene Korrespondenz bin Ladens mit anderen Al-Kaida-Führern zeigt, dass der Terrorchef nicht davon ausging, dass die USA nach 9/11 militärisch gegen Afghanistan vorgehen. Sein Ziel war, dass eine weltumspannende Umma, eine Gemeinschaft der Muslime, die Ordnung der Nationalstaaten ablöst, wie die Dschihadexpertin Nelly Lahoud unter anderem in einem Artikel für „Foreign Affairs“ kürzlich herausgearbeitet hat.

Nationalheld stellt Politiker in den Schatten

In vielen Nachrufen wurde spekuliert, was passiert wäre, wenn Massoud nicht ermordet worden wäre. Hätte er die USA gegen die Taliban unterstützt? Oder hätte er sich auch gegen die US-Invasion aufgelehnt? Und wäre er heute ein Hoffnungsträger, um erneut gegen die Taliban zu kämpfen?

Demonstranten in Brüssel zeigen ein Bild von Ahmad Shah Massoud, 2021
APA/AFP/John Thys
Noch immer eine Ikone: Demonstranten gegen die Taliban im August 2021

Seinen Stellenwert zeigten auch viele öffentliche Auftritte von Hamid Karzai, dem ersten Präsidenten nach dem Taliban-Regime 2001: Auf der Bühne waren häufig riesige Plakate von Massoud zu sehen. Karzai erklärte ihn auch rasch zum Nationalhelden.

Mag sein, dass das Heldenepos an der einen oder anderen Stelle seine Tücken hat und überzeichnet ist. Doch das Narrativ erfüllt einen Zweck: die Idee einer integrativen, eigenständigen afghanischen Identität und die Idee, besser eher die Utopie eines souveränen, friedlichen, vielleicht sogar demokratischen Staates.

Am Donnerstag kursierten auf Twitter Bilder und Videos von der Grabstätte Massouds, die offenbar von den Taliban teilweise zerstört und geschändet wurde – ein weiteres Zeichen, welch hohe Symbolkraft sein Wirken heute noch hat.

Sohn auf den Spuren des Vaters?

Im Massouds Fußstapfen konnte bisher keiner treten: Mehrere Weggefährten wie Abdullah Abdullah und Amrullah Saleh bekleideten einige Ministerämter, doch fehlten ihnen Können wie Charisma, um noch eine größere Rolle zu spielen. Entsprechend groß war das Medienecho, als vor wenigen Wochen Ahmad Massoud, neben fünf Töchtern der einzige Sohn seines Vaters, den Führungsanspruch im Widerstand gegen die Taliban verkündete.

der Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Ahmad Massoud, neben einem Bild seines Vaters Ahmad Shah Massoud
APA/AFP/Christophe Archambault
Massoud mit einem Bild seines Vaters. Beide tragen den Pakol als Markenzeichen.

Auch er verschanzte sich im Panjshirtal. Doch allein das theoretische Wissen als Absolvent der britischen Royal Military Academy Sandhurst und ein in London abgeschlossenes Studium der internationalen Politik brachten ihn nicht zum Erfolg.

Vor wenigen Tagen musste er als letzter Gegner der Taliban – zumindest vorerst – eine Niederlage hinnehmen: Auch wenn die Kämpfe noch andauern und sich seine Nationale Widerstandsfront von Afghanistan noch nicht ganz geschlagen gibt, haben die Taliban die erste Schlacht gewonnen und zumindest Teile des Tals eingenommen. Darüber, ob Ahmad Massoud noch in Afghanistan blieb oder nach Tadschikistan geflohen ist, gab es bis zuletzt widersprüchliche Angaben.