Präsidentin der europäischen Kommission Ursula von der Leyen.
APA/AFP/Yves Herman
Rede zur Lage der Union

Von der Leyen beschwört Solidarität

In ihrer zweiten Rede zur Lage der Europäischen Union hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Optimismus versprüht. Lob gab es am Mittwoch für den gemeinsamen Kampf gegen die Pandemie und das Engagement der europäischen Jugend. Von der Leyen schlug auch Pflöcke ein: So soll die EU zum großen Player in der Halbleiterproduktion wachsen.

Die Rede zur Lage der Union – analog zur jährlichen Rede zur Lage der Nation des US-Präsidenten – soll sowohl einen Aus- als auch einen Rückblick bieten. Einen entsprechenden Fokus legte von der Leyen wie schon in ihrer ersten Rede im Vorjahr zu Beginn auf die CoV-Pandemie. Es habe sich um eine „Enormität einer Herausforderung“ gehandelt, so die Kommissionschefin. Das vergangene Jahr sei auch eine Zeit der „Seelensuche“ gewesen, die Menschen hätten auch ihre eigenen Leben neu bewertet.

„Wenn ich an das vergangene Jahr und den Zustand der Union denke, dann sehe ich eine starke Seele in allem, was wir tun“, so von der Leyen in Straßburg. Man habe gemeinsam gehandelt, in der Pandemie, für den Wiederaufbau und auch beim „Green Deal“ gegen die Klimakrise. „Wir haben gemeinsam gehandelt, und ich denke, darauf können wir stolz sein“, so Von der Leyen nicht ohne Pathos.

Jahr der europäischen Jugend

Auch das kommende Jahr werde ein Charaktertest sein. Europa werde diesen Test bestehen, besonders weil man sich von den jungen Menschen des Kontinents inspirieren lassen könne. Die Kommissionschefin lobte die Empathie der europäischen Jugend, die Solidarität und ihren Glauben an einen gesunden Planeten. „Sie sind entschlossen, es besser zu machen.“

Von der Leyen kündigte an, 2022 als Jahr der europäischen Jugend auszurufen. Damit sollten die jungen Leute wertgeschätzt werden, die während der Pandemie vieles zum Schutz anderer geopfert hätten.

Weitere 200 Mio. Dosen als Spende

Europa habe in der Pandemie „geliefert“, sagte von der Leyen. Heute seien mehr als 70 Prozent der Erwachsenen in der Union geimpft, man habe über 700 Millionen Dosen Impfstoff in der EU bereitgestellt und noch einmal so viele an den Rest der Welt verteilt. Auch für die Drittimpfungen sei man bereits eingedeckt. „Wir haben es auf die richtige Weise gemacht, die europäische Weise“, sagte von der Leyen. Zudem werde die EU 200 Millionen weitere Impfdosen an ärmere Länder spenden. Das sei eine „Investition in die Solidarität und eine Investition in die weltweite Gesundheit“.

Neue Gesundheitsbehörde HERA kommt

Zudem werde man auf weitere Pandemien besser vorbereitet sein. Zu diesem Zweck werde man die neue Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (Health Emergency Preparedness and Response Authority, HERA) auf die Beine stellen. Insgesamt will die Kommission nach von der Leyens Worten bis 2027 50 Milliarden Euro in die Gesundheitspolitik investieren – „um sicherzustellen, dass kein Virus jemals eine lokale Epidemie in eine globale Pandemie verwandelt. Es gibt keine bessere Rückzahlung einer Investition als diese.“

Halbleiter sollen in Europa produziert werden

Von der Leyen sprach auch über die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie. Der Großteil der Mitgliedsstaaten erreiche das wirtschaftliche Niveau vor der Krise schon heuer wieder. Doch gebe es auch deutliche Schwachstellen. In der Halbleiterindustrie merke Europa heute, wie abhängig man von asiatischer Produktion sei. Derzeit stocke die Produktion trotz enormer Nachfrage auf der ganzen Welt.

„Wir müssen alle Kräfte in die Verbesserung dieser Situation stecken“, sagte die Kommissionschefin. Sie werde daher einen „European Chips Act“ präsentieren, dieser solle als Ziel „ein eigenes Ökosystem auf dem Stand der Technik“ erarbeiten, vom Handel bis zur Produktion in Europa.

Präsidentin der europäischen Kommission Ursula von der Leyen bei ihrer „Rede zur Lage der Union“.
APA/AFP/Yves Herman
Von der Leyen in Straßburg: Zweite Rede zur Lage der Union

Freilich war auch die Klimakrise Teil von von der Leyens thematischer Tour de Force. Sie bewarb den großen Projektwettbewerb „Europäisches Bauhaus“, der eine „Explosion von Ideen“ veranlasst habe. Damit werde man dem „Green Deal“ – dem großen Ziel der Klimaneutralität bis 2050 – Leben einhauchen und ihn in die Praxis umsetzen.

Die EU werde Verschmutzung verteuern, smartere Autos haben und sauberere Flugzeuge. Gleichzeitig werde nicht auf die soziale Seite vergessen, Klimaschutz dürfe nicht Energiearmut zur Folge haben. Daher werde man einen eigenen sozialen Klimafonds errichten, um energiearme Haushalte zu unterstützen. Von der Leyen rief auch die USA auf, gemeinsam mit Europa die Führungsrolle in Klimafragen zu übernehmen.

Gipfel zur Verteidigung angekündigt

In Sachen Außenpolitik musste die EU im vergangenen Jahr viel Kritik einstecken. Der Rückzug westlicher Truppen aus Afghanistan zeigte die Makel der europäischen Außenpolitik. Von der Leyen sagte, dem Debakel in Kabul zusehen zu müssen sei schmerzhaft gewesen. Die EU stehe weiterhin zur afghanischen Bevölkerung und werde diese unterstützen, um ein humanitäres Desaster abzuwenden. Die humanitäre Hilfe werde im Rahmen eines Afghanistan-Pakets um 100 Millionen Euro erweitert.

Das Paket soll demnächst präsentiert werden, so von der Leyen. Zuletzt hatte sie Ende August bekanntgegeben, dass der Beitrag aus dem EU-Budget für humanitäre Hilfe für Afghanen und Afghaninnen von rund 50 Millionen auf mehr als 200 Millionen Euro aufgestockt wird. Das Geld steht zusätzlich zu den Beiträgen aus Mitgliedstaaten bereit.

Die Kommissionspräsidentin will Europa auch in enger Zusammenarbeit mit der NATO militärisch stärken. Dazu bereite die EU-Kommission eine gemeinsame Erklärung mit dem transatlantischen Bündnis vor. Der mangelnde politische Wille dürfe einer gemeinsamen Verteidigungslinie der EU nicht mehr entgegenstehen. Auch in der Cyberverteidigung will von der Leyen Fortschritte erzielen. Dazu soll es einen neuen „Cyber Defense Act“ geben, der eine gemeinsame Einschätzung von Gefahren und auch einen gemeinsamen Ansatz zu ihrer Bekämpfung ermöglichen soll. Unter der kommenden französischen Ratspräsidentschaft solle die EU zudem einen Gipfel zum Thema Verteidigung abhalten.

Verbot für Produkte aus Zwangsarbeit

Mit Ländern auf der ganzen Welt soll die wirtschaftliche Kooperation unter dem Motto „Global Gateway“ vorangetrieben werden. Geschäfte im Sinne der europäischen Werte und der Transparenz zu machen soll Türen in die ganze Welt öffnen, so von der Leyen: „Wir wollen Verbindungen herstellen, keine Abhängigkeiten.“ „Global Gateway“ solle zu einer auf dem Globus anerkannten und vertrauenswürdigen Marke werden. Der weltweite Handel dürfe aber niemals auf Kosten der Würde und Freiheit von Menschen gehen, so die deutsche Politikerin.

Analyse der Rede zur Lage der EU

ORF-Korrespondent Roland Adrowitzer meldet sich aus Straßburg und spricht über das Ziel, die EU militärisch stärker zu machen. Zudem zieht er eine kurze Bilanz nach zwei Jahren von der Leyen an der Spitze der Europäischen Union.

Sie sprach sich für ein EU-weites Verbot für Produkte aus Zwangsarbeit aus. „Menschenrechte sind nicht käuflich – für kein Geld der Welt.“ Es gebe etwa 25 Millionen Menschen, die von Zwangsarbeit bedroht oder dazu verdammt seien.

Appell in Sachen Asyl

In puncto Asyl und Migration konnte von der Leyen einmal mehr nur die Mitgliedsstaaten zur Kooperation auffordern. Ein entsprechender Pakt zur gemeinsamen Linie steht auch nach Jahren der Verhandlungen noch immer aus. Alle wollten die Außengrenze der EU schützen, aber es wolle auch niemand Menschen in Not Asyl verwehren. „Ich weiß, dass wir eine gemeinsame Basis finden können“, appellierte von der Leyen. „Aber der Fortschritt war zuletzt auf schmerzhafte Weise langsam.“ Jetzt sei die Zeit für eine gemeinsame Migrationspolitik, sie fordere die Mitgliedsstaaten auf zu handeln. „Wir sollten alle übereinkommen, dass dieses Thema uns nicht spalten darf.“

Kritik, ohne Namen zu nennen

Explizite Wort fand von der Leyen in puncto Rechtsstaatlichkeit, ohne die Mitgliedsstaaten Polen und Ungarn beim Namen zu nennen. Mit Warschau und Budapest gibt es seit Jahren Streit über die Unabhängigkeit von Medien und Justiz. „Gesellschaften, die auf Demokratie und gemeinsamen Werten aufbauen, stehen auf stabilem Boden“, sagte von der Leyen.

Der europäische Kommissar für Wirtschaft und Währung Paolo Gentiloni, zusammen mit der Präsidentin der europäischen Kommission Ursula von der Leyen und der Paralympic-Athletin Beatrice Vio.
AP/Yves Herman
Bebe Vio (l.) solle als Inspiration dienen, so von der Leyen

„Das Vertrauen in diese gemeinsamen Werte hat unsere Gründerväter und Gründermütter nach dem Zweiten Weltkrieg zusammengebracht. Und es sind dieselben Werte, die die Freiheitskämpfer vereint haben, die vor über 30 Jahren den Eisernen Vorhang niedergerissen haben“ – für Demokratie, Freiheit und gegen Korruption. Heute seien diese Werte in den europäischen Verträgen festgeschrieben. Die europäischen Gerichte sorgten für ihre rechtmäßige Ausführung. Beides sei bindend für alle Mitgliedsstaaten.

Paralmypics-Siegerin als Inspiration

„So unvollkommen sie auch sein mag, unsere Union ist sowohl wunderschön einzigartig als auch einzigartig schön“, so von der Leyen. „Eine Union, die sowohl von unserer gemeinsamen Geschichte und unseren gemeinsamen Werten als auch von unseren unterschiedlichen Kulturen und Perspektiven geprägt ist“, es sei eine „Union mit Seele“, so von der Leyen. Als Gast lud die Kommissionspräsidentin die italienische Rollstuhlfechterin Bebe Vio ins Straßburger Parlament. Vio sei eine Inspiration, so von der Leyen.

Die Goldmedaillengewinnerin der Paralymischen Spiele sei ein Abbild ihrer Generation, eine Anführerin und eine Vertreterin ihrer Werte. „Es war der Geist der Gründer Europas, und das ist der Geist der nächsten Generation Europas. Lassen wir uns also von Bebe und all den jungen Menschen inspirieren, die unsere Wahrnehmung des Möglichen verändern“, schloss von der Leyen unter Applaus des Plenums.