LKW auf Straße
Reuters/Peter Cziborra
Lkw-Fahrermangel

Briten bitten Deutsche in Brief um Hilfe

In Großbritannien herrscht vor allem aufgrund des Brexits ein Mangel an Lkw-Fahrern und -Fahrerinnen. Als mögliche Entschärfung des Problems ließ sich die britische Regierung jetzt etwas Besonderes einfallen, wie der „Independent“ am Freitag schrieb. Tausende Deutsche im Land, die vor 1999 ihren Führerschein gemacht hätten, seien angeschrieben worden, da ihr Schein es ihnen erlaube, kleinere Lastwagen bis 7,5 Tonnen zu lenken.

In dem Brief des britischen Verkehrsministeriums, der der Zeitung vorliegt, wird den Angeschriebenen nahegelegt, eine „Rückkehr“ in die Fernfahrerbranche in Betracht zu ziehen – auch wenn viele der Adressaten und Adressatinnen noch nie am Steuer eines Lasters gesessen hätten. Laut „Independent“ ging der Brief nicht nur an Deutsche, sondern auch an Rettungsfahrerinnen und -fahrer sowie Notfallsanitäterinnen und -sanitäter, die ebenfalls gebeten würden, Lastwagen für diverse Einsätze im Land zu fahren.

„Es gibt großartige Möglichkeiten für Lastwagenfahrer in der Logistikbranche und die Arbeitsbedingungen haben sich im gesamten Sektor verbessert“, heißt es in dem Schreiben. „Ihre Fähigkeiten und Erfahrungen sind noch nie mehr gebraucht worden als jetzt.“ Aus dem Ministerium hieß es zu der Zeitung, der Brief sei an fast eine Million Menschen mit Lkw-Führerscheinen gesendet worden. Aus Datenschutzgründen sei es unmöglich gewesen, die Liste der Empfängerinnen und Empfänger genauer nach Berufen zu filtern.

LKW-Fahrschule
APA/AFP/Tolga Akmen
In Großbritannien fehlt es akut an Lkw-Lenkerinnen und -Lenkern

„Es ist schön zu wissen, dass es noch immer Jobperspektiven hier für uns nach dem Brexit gibt“, sagte ein 41-jähriger Deutscher, der mit seiner Frau in London lebt, dem „Independent“. „Wären wir nach Deutschland gegangen, wären wir wohl niemals als Lastwagenfahrer von Headhuntern angeworben worden.“ Vorerst wolle er seinen Job bei einer Investmentbank jedoch behalten, und seine Frau habe auch noch nie ein größeres Auto als einen Volvo gefahren und werde die „aufregende Möglichkeit“ wohl auch ausschlagen.

Britische Regierung: Hängt nicht mit Brexit zusammen

Die britische Regierung dementiert, dass der Mangel an Lkw-Fahrerinnen und -Fahrern im Vereinigten Königreich mit dem Brexit zusammenhängt. Der Chefsekretär des Finanzministeriums, Simon Clarke, sagte am Donnerstag auf BBC: „Die Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert sind, gibt es nicht nur in diesem Land. Die Vorstellung, dass dies ein rein britisches Problem ist, ist grundlegend falsch. In ganz Europa fehlen 400.000 Lkw-Fahrer“, sagte er.

„Der Gedanke, dass es hier um den Brexit geht, ist ein Versuch, uns wieder in ein, wie ich befürchte, ziemlich negatives Gespräch über verpasste Chancen zu verwickeln, wenn man sich die Situation in Deutschland, in Polen und in Frankreich ansieht, die diese Probleme ebenfalls haben“, so Clarke weiter.

Schlangen vor Tankstellen: Armee soll helfen

Der akute Fahrermangel hat auf der Insel derzeit drastische Konsequenzen: Vor den noch offenen Tankstellen bilden sich lange Schlangen, da Tanklaster viele nicht rechtzeitig beliefern können. Auch Supermarktregale blieben bereits teilweise leer. Während der Pandemie haben viele Fahrerinnen und Fahrer aus Osteuropa das Land verlassen. Strenge Einreiseregeln nach dem Brexit sorgen dafür, dass viele nicht zurückkehren. Mit Kurzzeitvisa für einige Tausende Fahrerinnen und Fahrer bis Weihnachten hofft die Regierung außerdem, Abhilfe zu schaffen.

Tankstelle mit versiegelten Zapfsäulen
APA/AFP/Adrian Dennis
Keine Lkw-Fahrerinnen und -Fahrer, kein Sprit

Panik- und Hamsterkäufe verschlimmerten die Lage zuletzt noch. In den vergangenen Tagen hatte die britische Regierung versucht, die Bevölkerung zu beruhigen und erklärt, die Krise sei unter Kontrolle. „Es ist wichtig zu betonen, dass es auf nationaler Ebene keinen Treibstoffmangel gibt und dass die Leute ganz normal Treibstoff kaufen sollten“, so Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng. Doch der vermeintliche Spritengpass, der eigentlich ein Mangel an Lkw-Fahrerinnen und Fahrern ist, hielt an.

Als weitere Maßnahme setzt die britische Regierung ab Montag die Armee zur Überbrückung der Engpässe bei der Benzinversorgung ein. 200 Soldatinnen und Soldaten – davon 100 Fahrerinnen und Fahrer – würden ein entsprechendes Training am Wochenende beenden und könnten dann ab Montag mit Lieferfahrten starten, teilte die Regierung am Freitag mit.

Am vergangenen Sonntag hatte die Regierung in London befristete Visa für 5.000 Lkw-Fahrerinnen und -Fahrer und für 5.500 Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter aus der EU in der Geflügelbranche in Aussicht gestellt, um den Engpass im Lebensmittelbereich zu schmälern. Viele lehnten jedoch ab, weil ihnen der Zeitrahmen zu kurz war.

Barnier sieht Krise als Brexit-Folge

Der ehemalige EU-Chefunterhändler in den Brexit-Gesprächen, Michel Barnier, sieht jedenfalls eindeutig einen Zusammenhang zwischen der Krise in Großbritannien und dem Austritt des Landes aus dem europäischen Binnenmarkt. Darauf angesprochen sagte der Franzose der BBC diese Woche: „Unser wichtigstes Kapital ist der Binnenmarkt, und elementarer Teil davon ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit.“ Großbritannien müsse nun den Konsequenzen des EU-Austritts ins Auge sehen. Es sei eine „unfassbare Entscheidung“ gewesen, den Binnenmarkt zu verlassen, so Barnier weiter.

Auch der deutsche SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz machte den Brexit für die Probleme an britischen Tankstellen verantwortlich. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit sei ein Prinzip der EU, sagte er. „Wir haben hart daran gearbeitet, die Briten zu überzeugen, die Union nicht zu verlassen“, betonte Scholz. Den Lastwagenfahrermangel in Großbritannien führte Scholz auch auf mutmaßlich zu niedrige Löhne zurück. „Wenn Sie nicht genug Menschen finden, die den Job machen wollen, hat das möglicherweise mit den Arbeitsbedingungen zu tun.“

In Großbritannien fehlen insgesamt schätzungsweise 100.000 Lkw-Fahrerinnen und -Fahrer. Abgesehen vom Brexit hatten auch die CoV-Beschränkungen zur Folge, dass die Ausbildung von Lenkerinnen und Lenkern bei den Fahrschulen ins Stocken kam. Zudem kämpft das Land bereits mit steigenden Gaspreisen, die Energiekosten in die Höhe treiben und zu einer Warenverknappung geführt haben.