Menschen bei der Seestadt Aspern
ORF.at/Christian Öser
Steuerreform

Kalte Progression als Dauerproblem

Die Stimmen der Kritiker an der Steuerreform scheinen auch Tage nach der Präsentation nicht verhallen zu wollen. Die Steuerreform würde keine echte Erleichterung darstellen – Grund dafür sei nicht zuletzt wieder einmal die kalte Progression. Die Arbeitnehmenden würden sich die Entlastungen unterm Strich also selbst zahlen, so die Argumentation. Die Regierung dementiert.

„Von einer wirklichen Steuerreform kann erst gesprochen werden, wenn die kalte Progression abgeschafft wurde“, meint der Direktor des wirtschaftsliberalen Thinktanks Agenda Austria, Franz Schellhorn. „Es ist enttäuschend, dass keine Regierung in Österreich den Mut findet, die Inflationsbesteuerung zu beenden. Aber es ist auch nicht überraschend. Denn damit werden die Bürger belastet, ohne dass diese etwas davon mitbekommen“, so Schellhorn.

Berechnungen der Agenda Austria und des sozialliberalen Momentum-Instituts ergeben, dass die kalte Progression, die in den vergangenen Jahren wirksam geworden ist, durch die Steuersenkung nicht zur Gänze abgegolten wird. Zu einem ähnlichen Schluss kommt die Arbeiterkammer (AK).

Grafik zur Steuerreform
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: Agenda Austria

Was ist die kalte Progression?

Bei der kalten Progression handelt es sich um eine – durch die progressive Besteuerung – entstehende Einkommensteuer- bzw. Lohnsteuer-Mehrbelastung. Sie entsteht über die Zeit, wenn die Steuerstufen nicht an die durchschnittliche Einkommens- und Inflationsentwicklung angepasst werden.

Auch der Steuerfreibetrag bleibt gleich niedrig, während der Lohn steigt. Die kalte Progression entsteht in jedem progressiven Steuersystem, wenn dieses nicht an die Inflation angepasst wird. Ein Steuersystem wird progressiv genannt, wenn der Grenzsteuersatz höher ist als der Durchschnittssteuersatz.

Berechnungen: Stärkere Belastung statt Entlastung

Die neueste Steuerreform könne die kalte Progression seit der letzten Steuerreform (2016) nicht wettmachen – jedenfalls nicht für Kinderlose. Sie werden bis 2024 durch die kalte Progression stärker belastet als sie durch die Steuerreform entlastet werden, rechnet Agenda Austria vor.

Bereinigt um die kalte Progression zeigt sich, dass vor allem Lohnsteuerzahler mit Kindern von der Steuersenkung profitieren. Möglich wird das durch den Familienbonus, der die bis 2024 aufgestaute kalte Progression mehr als kompensiert, wie Berechnungen der Agenda Austria zeigen.

Die geplante Reform sieht eine Senkung der Lohnsteuer in Stufen vor: Die 2. Einkommensstufe wird von 35 auf 30 Prozent ab Juli 2022 gesenkt, die 3. Einkommensteuerstufe von 42 auf 40 Prozent ab Juli 2023. Der Familienbonus wird von 1.500 auf 2.000 Euro pro Kind und Jahr ab 1. Juli 2022 angehoben.

Entlastender Effekt bis 2026 „verpufft“

Auch das Momentum-Institut hält fest, dass von einer tatsächlichen Entlastung nicht die Rede sein könne, denn rechnet man bis 2009 zurück, wurde die kalte Progression der letzten zwölf Jahre nicht einmal vollständig abgegolten. Auch der entlastende Effekt der jetzigen Tarifsenkung wird bereits im Jahr 2026 wieder verpufft sein. Höhere Inflation und schnelleres Lohnwachstum lassen die kalte Progression in den kommenden Jahren umso stärker wirken.

Im Zeitraum bis 2028 betrachtet, ergeben sich laut Momentum-Institut für den Staat Mehreinnahmen in Höhe von 7,8 Mrd. Euro, während durch die Senkung der Körperschaftssteuer im gleichen Zeitraum 5,3 Mrd. Euro an Steuereinnahmen verloren gehen. „Die Senkung der Steuerstufen bei der Lohn- und Einkommenssteuer ist also eine temporäre Maßnahme, während Unternehmen durch die KÖSt-Senkung dauerhaft entlastet werden“, kritisiert das Institut.

AK: 3,3 Milliarden Euro Belastung

Die Arbeiterkammer hat die Wirkung der angekündigten Steuerreform im Verhältnis zur kalten Progression von der Innsbrucker Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung errechnen lassen. Sie kommt indes in ihren Berechnungen auf knapp drei Milliarden Euro.

„Also wenn man sich die Ergebnisse anschaut, dann sind nach Abzug der Steuerentlastungen, die seit 2016 schon gesetzt worden sind, noch in einer Gesamtsumme 3,3 Milliarden Euro an kalter Progression offen“, sagte Dominik Bernhofer, Leiter der Steuerabteilung der Arbeiterkammer gegenüber Ö1. Von der Steuerreform bleibe demnach nicht viel übrig.

Finanzministerium verweist auf Betrachtungszeitraum

Im Finanzministerium verwies man wiederum darauf, welchen Betrachtungszeitraum man vergleiche. „Seit 2017, also seit Sebastian Kurz Bundeskanzler ist, ist die Entlastung für die Bürgerinnen und Bürger um ein Vielfaches höher als der Effekt der kalten Progression“, hieß es in einer der APA übermittelten Stellungnahme.

Allein von 2017 bis 2025 würden die bereits gesetzten bzw. nun präsentierten Entlastungsmaßnahmen „mehr als das Doppelte ausmachen. In Summe nämlich rund 40 Milliarden Euro.“

Mahrer: Durch Reform „mehr politischer Spielraum“

Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer (ÖVP) nahm im Morgenjournal zu den Vorwürfen Stellung: Eine Regierung habe zwei Möglichkeiten. Sie könne einen Automatismus bei der kalten Progression einführen oder eben in regelmäßigen Schritten Steuerreformen machen. In diesem Fall habe man sich, wie auch die Regierungen zuvor, für die zweite Variante entschieden. Der Grund dafür sei, dass man „mehr politischen Spielraum“ habe, um auf spezielle Situationen zu regieren.

Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) tat den Vorwurf, dass die Steuerreform bald von der kalten Progression aufgefressen sein werde, als „vollkommenen Mumpitz“ ab.