Britischer Bauer in einem Kühstall
APA/AFP/Paul Ellis
Fahrer und Schlächter fehlen

Britische Bauern im Brexit-Sog

Der vor allem durch den Brexit bedingte Mangel an Arbeitskräften in Großbritannien zieht immer weitere Kreise. So mussten Milchbauern zuletzt wegen fehlender Lkw-Transporte Zehntausende Liter Milch vernichten. Aufgrund fehlender Schlächter wurden zudem bereits Hunderte Schweine gekeult. Rufe nach einer Lockerung der strengen Einreiseregeln wurden von Premier Boris Johnson dennoch ignoriert.

„Der Mangel an Lkw-Fahrern hat ziemlich große Auswirkungen“, sagte der Vorsitzende des Branchenverbandes Royal Association of British Dairy Farmers, Peter Alvis, zu Reuters. Noch sei das Wegkippen von mehreren Zehntausenden Litern Milch kein flächendeckendes Problem – immerhin wurden in Großbritannien 2020 rund 15,3 Mrd. Liter Milch produziert. Doch Berichte von Betroffenen mehren sich.

Allein ein Milchviehhalter in Mittelengland hat in den vergangenen zwei Monaten 40.000 Liter vernichten müssen, weil kein Fahrer sie abholen konnte. „Es ist einschneidend und emotional erschöpfend, wenn man Milch produziert und am Ende des Tages den Stecker ziehen muss“, sagte der Landwirt. In ihrer Not sehen sich viele Bauern gezwungen, die Preise zu senken. Bei den Abnehmern handelt es sich dann oftmals um kleine Unternehmen, die Milch zu niedrigeren Preisen aufkaufen und sie zu anderen Verkaufsstellen transportieren.

Abgelassene Milch auf einer Farm in England
Reuters
Weggeschüttete Milch auf einer Farm in Großbritannien

Fahrermangel beschäftigt Briten seit Wochen

Die britische Wirtschaft leidet bereits seit Wochen unter dem Fahrermangel – konkret fehlen dem Land bis zu 100.000 Lastwagenfahrer. Das liegt vor allem daran, dass viele Trucker nach dem Brexit auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt sind. Strenge – und pandemiebedingt auch regelmäßig geänderte – Einreiseregeln sorgen dafür, dass viele nicht zurückkehren.

Mit Kurzzeitvisa für einige Tausende Fahrerinnen und Fahrer bis Weihnachten hofft die Regierung jedoch, Abhilfe zu schaffen. Die britische Regierung dementiert zudem, dass der Mangel an Lkw-Fahrerinnen und -Fahrern im Vereinigten Königreich mit dem Brexit zusammenhängt.

Die Ungewissheit im Zusammenhang mit dem Milchtransport geht einher mit explodierenden Kosten und der Schwierigkeit, Arbeitskräfte für die Höfe zu finden. Nur ein Drittel der Milcherzeuger arbeitet fünf Jahre oder länger in einem Betrieb. Nur wenige Briten bewerben sich um eine Stelle auf einem Bauernhof. 42,1 Prozent der britischen Milchviehbetriebe sind daher immer noch auf Arbeitskräfte aus der EU angewiesen, wie kürzlich eine Umfrage der Royal Association of British Dairy Farmers ergab.

Schweinebauern warnen vor Massenkeulungen

Und eben jener Mangel an Arbeitskräften – konkret Schlächtern – traf zuletzt auch Schweinebauern. Denn Schlachthöfe können wegen der fehlenden Spezialisten den Schweinebauern nicht mehr genug Tiere abnehmen – deshalb wird auf den Farmen der Platz knapp. Die Folge? Etwa 600 gesunde Tiere, die man nicht zum Schlachthof bringen können habe, seien getötet worden, teilte der Schweinebauernverband National Pig Association am Dienstag mit.

Zwar gebe es noch keine Massenkeulungen, aber die Maßnahme zeige, dass die Krise Folgen habe. Der Verband hatte gewarnt, dass bis zu 120.000 Schweine gekeult werden müssten, falls nicht bald mehr Personal eingestellt werde. Für viele Bauern sei es äußerst belastend, die Schweine grundlos zu töten, sagte der Sprecher.

Fachkräftemangel auch hinter Kraftstoffkrise

Das Problem mit dem Fachkräftemangel steckt auch hinter der Kraftstoffkrise, die Großbritannien seit geraumer Zeit im Griff hat. Vor den Tankstellen bildeten sich zuletzt immer wieder lange Schlangen, da Tanklaster viele nicht rechtzeitig beliefern können oder konnten. Auch Supermarktregale blieben bereits teilweise leer. Panik- und Hamsterkäufe verschlimmerten die Lage zuletzt noch.

Die britische Regierung versuchte, die Bevölkerung daher zu beruhigen, und erklärte, die Krise sei unter Kontrolle. Doch der vermeintliche Spritengpass, der eigentlich ein Mangel an Lkw-Fahrerinnen und -Fahrern ist, hielt an. Als weitere Maßnahme setzte die britische Regierung Anfang letzter Woche die Armee zur Überbrückung der Engpässe bei der Benzinversorgung ein.

Warteschlange vor einer Tankstelle in Ashford
AP/Gareth Fuller
Vor den noch offenen Tankstellen bilden sich lange Schlangen

Johnson schwor Torys auf „überfälligen“ Reformkurs ein

Johnson rief die regierenden Konservativen unterdesssen am Mittwoch zu einem umfassenden Reformkurs zur Stärkung der heimischen Wirtschaft auf. Beim Parteitag der Torys im nordenglischen Manchester verbreitete Johnson am Mittwoch trotz der derzeitigen Versorgungskrise Zuversicht: Seine Regierung habe einen „lange überfälligen Kurswechsel“ eingeleitet, der langfristig zu einem Aufschwung mit „hohen Löhnen“ und „hoher Produktivität“ führen werde.

Großbritannien stehe vor großen wirtschaftliche und gesellschaftlichen Herausforderungen, sagte Johnson vor den Delegierten. Keine Regierung zuvor habe den „Mumm“ gehabt, sich diesen Problemen zu stellen. Es werde keine Rückkehr zu der „unkontrollierten Einwanderung“ geben, wie sie vor dem Brexit geherrscht habe. Stattdessen müssten britische Unternehmen in ihre Mitarbeiter und in ihre Technologie investieren. So werde der Weg zu „hohen Löhnen, hohen Qualifikationen und hoher Produktivität“ beschritten, sagte Johnson.

Boris Johnson
AP/Jon Super
Premier Boris Johnson will keine Rückkehr zu der „unkontrollierten Einwanderung“

In seiner Parteitagsrede wischte Johnson das Problem der Panikkäufe an Tankstellen und in Supermärkten beiseite. Er versprach, dass die kurzfristigen Entbehrungen durch die nachher eintretenden Vorteile wettgemacht würden.

Britische Unternehmer enttäuscht von Johnson

Britische Unternehmer zeigten sich von Johnsons Rede enttäuscht. „Die Wirtschaft wird als Buhmann dargestellt, aber das Problem ist viel größer. Wir wollen unseren Leuten so viel zahlen wie möglich, aber Unternehmen sind kein endloser Schwamm, die unendlich viele Kosten aufsaugen können“, sagte der Chef der Supermarktkette Iceland, Richard Walker, am Donnerstag der „Times“.

Im nächsten Jahr kämen viele höhere Kosten auf Betriebe zu: „Wir werden höhere Energiepreise haben, weitere Lkw-Fahrer, weitere Verpackungskosten.“ Das sei nicht alles auf einmal zu stemmen. Insbesondere viele kleinere Unternehmen seien gefährdet.

Ein Vertreter der Federation of Small Businesses, die die kleineren britischen Unternehmen als Verband vertritt, erklärte im Sender Times Radio, man fühle sich von der Konservativen Partei nicht mehr berücksichtigt. Derzeit sei die oppositionelle Labour-Partei die einzige mit konkreten Angeboten für kleine Unternehmen.