Klubobmann Sebastian Kurz (ÖVP)
APA/Hans Punz
Nach Chaostagen

Politik hat nur kurze Zeit zum Durchatmen

Eine Hausdurchsuchung in der ÖVP-Zentrale, ein drohender Bruch der Koalition, Gespräche zu einer Vierparteienkoalition, ein fliegender Kanzlerwechsel, eine Festnahme in der ÖVP-Affäre und die Konstituierung eines nächsten U-Ausschusses: In den vergangenen Tagen ist die heimische Innenpolitik fast vollständig auf den Kopf gestellt worden. Das Wochenende werden nicht nur die Akteure, sondern auch die Beobachter zum Durchatmen dringend benötigen. Viel Zeit wird man dafür wohl nicht haben.

Es war nicht weniger als ein Politbeben, das in den vergangenen Tagen Österreich erschüttert hat. Es begann mit Hausdurchsuchungen im Bundeskanzleramt, in der ÖVP-Zentrale, im Finanzministerium und in einigen Privatwohnungen am 6. Oktober. Der Vorwurf der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) in aller Kürze: frisierte Umfragen, die von Medien der „Österreich“-Gruppe veröffentlicht, aber teilweise von Finanzministerium über Scheinrechnungen finanziert worden sein sollen.

Ganz aus dem Nichts kamen die Hausdurchsuchungen freilich nicht: Die veröffentlichten Chats beschäftigen Österreich nun schon Monate. Ende September wurde bekannt, dass Kurz schon Anfang September von einem Richter einvernommen worden war. Und dann kündigte die ÖVP in insgesamt eher irritierenden Pressekonferenzen unter Berufung auf angebliche Journalistenanfragen selbst an, dass Hausdurchsuchungen anstehen würden.

„Sittenbild“ und grüner Aufstand

Und die gab es dann wirklich: Als Beschuldigte wurden – unter anderen – niemand Geringerer als Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und sein engstes Umfeld geführt. Als wenig später die Dokumente der WKStA, die die Grundlage für die Razzien bilden, die Runde machten, war angesichts neuer Chats schnell von einem „Sittenbild“ die Rede. Und das brachte neben den strafrechtlichen Fragen auch die moralische und politische Tangente ins Spiel – und erhöhte den Druck auf Kurz und Co.

Die Grünen, zunächst noch zurückhaltend, stellten tags darauf die Handlungsfähigkeit Kurz’ infrage und damit auch in den Raum, in der von der Opposition verlangten Sondersitzung des Nationalrats am Dienstag einen Misstrauensantrag zu unterstützen.

180-Grad-Wende binnen 24 Stunden

Die ÖVP stemmte sich zunächst dagegen: Die ÖVP-Ministerriege – wobei dem Vernehmen nach nicht jeder und jede auf Eigeninitiative – unterschrieb, nur unter Kanzler Kurz im Amt bleiben zu wollen. Auch die Bünde zogen nach. Der Kanzler selbst bekräftigte am Freitagabend in einem eilig anberaumten Statement, im Amt bleiben zu wollen.

Genau 24 Stunden später war dann alles anders: Kurz verkündete, „zur Seite“ zu treten und Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) sein Amt zu überlassen. Die Grünen akzeptierten das, die Koalition war – vorerst – gerettet.

Wie es zum Sinneswandel kam, dazu gibt es zwei „Erzählungen“. Aus dem Umfeld von Kurz hieß es, er habe selbst nach Debatte im engsten Kreis die Entscheidung getroffen. Andere berichteten, die ÖVP-Landeshauptleute hätten gehörigen Druck entwickelt.

Holpriger Start für Schallenberg

Schallenberg wurde am Montag angelobt und betonte in seinen Antrittsreden und ersten Interviews seine weiterhin enge Verbundenheit zu Kurz. Dass er die Vorwürfe gegen Kurz als „falsch“ bezeichnete und im Nationalrat einen von NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger überreichten Ausdruck der WKStA-Anordnung auf den Boden warf, wurde prompt als schwerer Fehler kritisiert.

Vizekanzler Werner Kogler (Grüne), Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) und NEOS-Parteichefin Beate Meinl-Reisinger
APA/Herbert Neubauer
Meinl-Reisinger übergibt Schallenberg die WKStA-Anordnung

Die Opposition sieht Kurz, mittlerweile ÖVP-Klubobmann im Parlament, als „Schattenkanzler“. Politische Kommentatoren vermissen zumindest eine leichte Emanzipation Schallenbergs von seinem Vorgänger. Von einer 100-tägigen Schonfrist für den neuen Kanzler kann also keine Rede sein. Dafür geht jetzt alles auch viel zu schnell. Immerhin konnte die Regierung den Budgetentwurf von Finanzminister Gernot Blümel im Ministerrat beschließen, und seine Budgetrede im Nationalrat ging auch über die Bühne.

Gesprächsbedarf in der ÖVP

Nach turbulenten eineinhalb Wochen dürfte die Politik jetzt am Wochenende vielleicht ein wenig Zeit zum Durchatmen und zur Reflexion finden. Und es werden wohl alle Parteien ein wenig Zeit brauchen, die neue politische Realität sich ein wenig setzen zu lassen.

Vor allem bei der ÖVP ist viel passiert – und es könnte noch mehr passieren. Mit Sebastian Kurz ist die zentrale Figur des ÖVP-Erfolgs der vergangenen Jahre zumindest angeschlagen. Auch sein Kommunikations- und Machtapparat ist nicht mehr ganz intakt: So wurden Medienbeauftragter Gerald Fleischmann und Pressesprecher Johannes Frischmann, gegen beide wird ermittelt, beurlaubt.

Klubobmann Sebastian Kurz (ÖVP)
AP/Lisa Leutner
Vom Kanzler zum Abgeordneten und Klubobmann

Etwa aus Tirol wurden mit Landeshauptmann Günther Platter schon ganz offen kritische Stimmen laut. Weitere könnten folgen, wenn der Schock in der Partei gesickert ist. Jedenfalls dürfte es intern verstärkten Diskussionsbedarf geben – auch bei der Frage, wie türkis die ÖVP bleibt oder wie sehr das Pendel Richtung Schwarz zurück ausschlägt.

Damoklesschwerter über der ÖVP

Und ganz gleich, wie die Debatten innerhalb der Volkspartei jetzt laufen, es warten gleich mehrere Damoklesschwerter. Die Meinungsforscherin Sabine Beinschab, die für „Österreich“ und das Finanzministerium Studien und Umfragen gemacht und „frisiert“ haben soll, wurde für zwei Tage wegen Verdunkelungsgefahr festgenommen. Ob und was sie ausgesagt hat, dürfte nicht nur die anderen Beschuldigten noch beschäftigen. Details der Festnahmeanordnung, die am Freitag publik wurden, gaben da bereits einen Vorgeschmack.

Auch weitere Ermittlungsergebnisse können jederzeit auftauchen, ebenso wie neue Vorwürfe, zumal von den kolportiert 300.000 Nachrichten auf dem Handy von Thomas Schmid, früher Pressesprecher im Finanzministerium, später ÖBAG-Chef, noch immer erst ein Bruchteil ausgewertet sein soll. Und auf politischer Ebene droht ebenfalls weiter Ungemach: Der von der Opposition in Windeseile auf den Weg gebracht Untersuchungsausschuss könnte schon Mitte November starten.

Wie steht es mit dem Koalitionsklima?

Wie es mit dem Koalitionsklima aussieht, steht ebenfalls in den Sternen. Neokanzler Schallenberg sprach in diesem Zusammenhang von einer „Mammutaufgabe“. Die eher spitzen Bemerkungen, die Tourismusministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) und Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) zum Thema Wintertourismus-Verordnung austauschten, bestärken dieses Bild.

Überhaupt müssen wohl auch die Grünen die vergangenen Tage verdauen: Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) setzte mit der Forderung nach einer „untadeligen Person“ an der Spitze der Regierung alles auf eine Karte – und gewann. Ob grüner Klub und grüne Basis weiter mit einem türkisen Koalitionspartner leben können, wird wohl auch von der weiteren Reaktion der ÖVP abhängen.

Vizekanzler Werner Kogler
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Kogler hat hoch gepokert

Vorbild Israel – und die Folgen

Doch auch für die Oppositionsparteien wird es nach den vergangenen Tagen einiges zu besprechen geben. Eilig wurde da bereits über eine Koalition gegen die ÖVP gesprochen – wohl auch wegen eines prominenten Vorbilds: In Israel schlossen sich ja im Juni acht Parteien quer über alle ideologischen Anschauungen zusammen, um den unter Korruptionsverdacht stehenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu aus dem Amt zu hieven. Der Coup gelang, und zumindest bisher funktioniert die Koalition der ungleichen Partner auch.

Welche Erfolgsaussichten Gespräche über eine Viererkonstellation mit SPÖ, FPÖ, Grünen und NEOS gehabt hätten? Fest steht, dass die Entwicklungen vor allem eines zeigen: dass, sobald es nur ein Aufblitzen einer Möglichkeit auf eine Regierungsbeteiligung oder eine Neuwahl gibt, die Führungsqualitäten von SPÖ-Parteichefin Pamela Rendi-Wagner wieder infrage gestellt werden – und zwar innerhalb der Partei wie auch in der öffentlichen Debatte.

Pamela Rendi-Wagner (SPÖ)
ORF.at/Roland Winkler
Einmal mehr Kritik an Rendi-Wagner

Tabubruch FPÖ-Kooperation?

Die SPÖ hätte den festen Vorsatz, nicht mit der FPÖ auf Bundesebene zusammenzuarbeiten, sofort leichtfertig über Bord geworfen, kritisieren die einen. In dieses Horn stieß natürlich auch die ÖVP, die von einer „Vierer-Bande“ sprach und davor warnte, FPÖ-Chef Herbert Kickl, nota bene einst Innenminister in der ÖVP-FPÖ-Koalition, in eine Regierung zu holen. Die anderen sahen den Schritt eben als Notmaßnahme, also zeitlich befristete Notlösung auf Zeit.

Herbert Kickl (FPÖ)
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FPÖ-Chef Kickl – quasi der Gewinner des Redewettbewerbs am Dienstag im Parlament

In den anderen potenziell beteiligten Parteien gelang diese Argumentation besser, bei Grünen und NEOS wurden kaum Stimmen laut, die beklagten, dass man jetzt die Freiheitlichen aus Machtgründen hofiere. Der Fraktionsführer der FPÖ im „Ibiza“-U-Ausschuss, Christian Hafenecker, forderte wörtlich einen „Cordon Sanitaire“ bei dem eine Zusammenarbeit gegen die ÖVP Aufklärung – auch in den Ministerien – bringen solle. Wie sehr das politische System in den vergangenen Tagen auf den Kopf gestellt wurde, zeigte auch, dass FPÖ-Chef Kickl für seine Rede bei der Sondersitzung am Dienstag ausnehmend viel Lob von der politischen Konkurrenz erhielt.