Tempo-30-Zone in Brüssel
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Tempo 30 in Brüssel

Eine Stadt gewöhnt sich an die Gemächlichkeit

Seit Anfang des Jahres gilt in der belgischen Hauptstadt Brüssel ein generelles Tempo-30-Limit. Gesunkene Unfallzahlen geben den Befürwortern recht, auch der Lärmpegel sank in Teilen der Stadt. Aber auch die Gegenargumente verlieren nicht an Gültigkeit.

Der Verkehr und seine auch ungeschriebenen Gesetze ist in jeder Stadt ein eigener Mikrokosmos. Während in Wien der Verkehr im Großen und Ganzen fließt, stockt er in Brüssel auch außerhalb der Baustellensaison permanent. Die Regeln werden in Belgiens Hauptstadt auch gern gedehnt – die praktische Führerscheinprüfung wurde im Land erst 1977 eingeführt.

Lenkerinnen und Lenker, die schon vorher über ein eigenes Auto verfügten, fahren mitunter noch heute ohne offiziellen Führerschein. Zudem teilen sich Fahrräder, E-Scooter und Fußgängerinnen, eigentlich unerlaubt, mehr oder weniger leidenschaftslos die Gehsteige.

Das Durcheinander wird seit 1. Jänner gebremst, seither gilt in der ganzen Stadt mit Ausnahme von einigen Hauptverkehrsachsen Tempo 30. Dort, wo noch 50 km/h gilt, muss das extra ausgeschildert werden. Das neue Limit gilt für alle Verkehrsteilnehmer, auch für den Fahrradverkehr. Andere Großstädte wie Paris folgten bereits dem Brüsseler Beispiel, auch in Wien kommt regelmäßig die Tempo-30-Debatte auf.

Positive erste Ergebnisse

Zusätzlich kündigte Brüssel strenge Kontrollen und die Aufstockung der Radarkameras im Stadtgebiet an. Auch wurde eine eigene Bundesanwaltschaft gegründet, die zu „einer drastischen Verringerung der Toleranz bei Geschwindigkeitsübertretungen führen“ soll. Die eingenommenen Strafen sollen in weitere Informationsmaßnahmen und Sicherheitsinfrastruktur fließen.

Radfahrerinnen demonstrieren am Womens Day vor dem EU-Parlament in Brüssel
APA/AFP/Aris Oikonomou
„Explosion der Zahlen“: Brüssel wurde zur Stadt der Fahrräder

Laut einer vorläufigen Bilanz der Stadt reduzierte sich seit Einführung von Tempo 30 die Zahl der Unfälle insgesamt um rund ein Fünftel. Um die Zahlen zumindest halbwegs vergleichbar zu machen, zog man als Referenz den Schnitt aus den Vergleichsmonaten zwischen 2016 bis 2020 heran, also vor dem ersten strengen Covid-19-Lockdown.

Noch sichtbarer sind die Ergebnisse bei den Personen, die bei Unfällen schwer verletzt oder getötet wurden: Bei beiden Gruppen gab es ein Minus von einem Viertel – „der niedrigste Wert seit fünf Jahren, sogar wenn man die Lockdown-Phasen mit einrechnet“, heißt es von der Stadt.

Lärm nahm mancherorts ab

„Wir beginnen zu sehen, dass Tempo 30 funktioniert. Unfälle bei niedrigeren Geschwindigkeiten fordern weniger Tribut. Das wissen wir, und das sehen wir in den Zahlen. Es ist ein kleiner Einsatz der Autofahrer und bedeutet, dass jeden Tag Leben gerettet und Leid vermieden wird", so die Stadträtin für Mobilität und Verkehrssicherheit, Elke Van den Brandt.

Dazu gebe es noch willkommene Nebenwirkungen: So habe – je nach Bodenbelag – der verkehrsbedingte Lärm in einigen Bezirken stark abgenommen. Und die Autofahrerinnen und -fahrer seien insgesamt langsamer geworden, auch in jenen Zonen, in denen noch Tempo 50 gilt.

Generell langsamer

Das beobachtete auch der Brüsseler Fußgängeraktivist Geert van Waeg. Er setzt sich schon seit Jahrzehnten „für ein besseres Leben aktiver Verkehrsteilnehmer“ ein und ist Präsident des Internationalen Fußgängerverbands (IFP). Van Waeg verlor seine zwölfjährige Tochter, als sie bei einer Wanderung ihrer Pfadfindergruppe von einem Auto mit überhöhter Geschwindigkeit überfahren wurde.

Er sei „sehr glücklich“ mit der neuen Tempo-30-Regel in Brüssel, so Van Waeg zu ORF.at. „Das Tempolimit hat sich als stark und effektiv erwiesen.“ Früher habe es schon in rund 40 Prozent der Straßen ein Tempolimit von 30 km/h gegeben. Damals habe es aber nicht richtig gewirkt, die Menschen hätten es oft nicht ernst genommen. Mit dem generellen Tempolimit habe sich das geändert: „Es funktioniert jetzt erstaunlich gut, weil sich die ganze Geisteshaltung geändert hat.“ Der Autoverkehr sei insgesamt ruhiger geworden, so Van Waeg. „Die Leute fahren jetzt auch in den 50er-Zonen 50km/h anstatt wie früher 70.“

Mehr Fahrräder unterwegs

In Van Waegs Augen ergab sich in Wechselwirkung von Pandemie und neuer Verkehrsregel noch ein weiterer Effekt: eine „Explosion bei den Fahrradzahlen“. Van Waeg spricht von einem Plus von 60 Prozent. Mit den Lockdowns hätten die Brüsselerinnen und Brüsseler das Fahrradfahren neu entdeckt und seien nun dabei geblieben. „Die Leute haben gesehen, dass es in der Stadt mit dem Rad funktioniert. Früher war das vielen einfach zu gefährlich. Heute nicht mehr, und jetzt gibt es auch immer mehr Kinder, die Rad fahren. Das ist sehr vielversprechend.“

Tempo-30-Zone in Brüssel
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Seit Beginn des Jahres gilt generell Tempo 30. Die Maßnahmen werden unterschiedlich eingeschätzt.

Die Stadt habe auch die Infrastruktur verbessert und unter anderem mehr Radwege eingeplant. Zudem brachte die belgische Regierung im Herbst den landesweiten Fahrradaktionsplan „Be Cyclist“ mit 52 Maßnahmen auf den Weg. Schon jetzt erhalten mehr als eine halbe Million Belgierinnen und Belgier eine Zulage, wenn sie mit dem Fahrrad zur Arbeit kommen. Das soll nun auch etwa auf Beamte ausgeweitet werden.

Der Fluss ist entscheidend

Freilich gibt es auch in Brüssel die andere Seite, die nicht mit Kritik spart. Man begrüße natürlich Pläne, die die Verkehrssicherheit erhöhen sollen, so der Chef des Belgischen Autoherstellerverbands (FEBIAC) zu ORF.at. In Wohngegenden seien verkehrsberuhigte Zonen nachvollziehbar. Flächendeckende Tempo-30-Abschnitte berücksichtigten jedoch meist nicht örtliche Gegebenheiten wie Straßenführungen, die Bedeutung von Verkehrswegen oder tagesabhängige Verkehrsberuhigungsmaßnahmen.

„Eine standardisierte Stellgröße für alle Fallbeispiele ist oftmals keine zielführende Lösung“, so Cremer. Wer den Straßenverkehr in der „europäischen Stauhauptstadt“ kenne, wisse, dass das Durchschnittstempo in den üblichen Stoßzeiten ohnehin nicht höher als 30 km/h sei.

Verkehrsstau auf einer Straße in Brüssel
APA/AFP/Kenzo Tribouillard
Staugeplagtes Brüssel: Auf den Hauptverkehrsachsen geht es ohnehin meist nur im Schritttempo voran

Cremer hätte sich mehr Mitsprache für Industrie und Autoverbände gewünscht. Das generelle Limit werde außerdem nicht zu besserer Luft führen, das gelinge nur bei ausreichendem Verkehrsfluss. „Das Brüsseler Tempolimit bewirkt aber das genaue Gegenteil.“

Mehr Kraftstoffverbrauch

Er plädiert für intelligente Leitsysteme, Umgehungsstraßen und auch mehr Parkplätze, „denn Studien zufolge könnten die morgendlichen und abendlichen Staus in Brüssel um etwa 20 Prozent verringert werden, wenn es ausreichende Parkplatzkapazitäten gäbe“. Ein Auto mit Verbrennungsmotor verbrauche bei 30 km/h mehr Kraftstoff als bei 70. Häufiges Bremsen und Anfahren lasse den Verbrauch ebenfalls steigen. Das Brüsseler Tempolimit stehe also Verkehrsfluss und weniger Verbrauch sogar entgegen, so Cremer.

„Konfliktreiche Atmosphäre“

Auch der belgische Autofahrerverband Touring ist nicht erfreut über die flächendeckende Lösung. Prinzipiell trage Tempo 30 zu einem sicheren Verkehrsumfeld bei, man solle das Schema aber nicht einführen, wo es keine Sinn habe, so der Sprecher Lorenzo Stefani zu ORF.at. Wo die Lenkerinnen und Lenker die Geschwindigkeitsbegrenzung für unnötig erachteten, würde sie auch nicht eingehalten. Dann glaubten sich die Verkehrsteilnehmer jedoch in einem möglichen falschen Sicherheitsgefühl. Zudem lasse die Überwachung des Tempolimits ohnehin zu wünschen übrig.

Die sicherste Lösung sei es, die „Verkehrsströme so weit wie möglich zu trennen und eine separate, sichere Infrastruktur für sie bereitzustellen“, so Stefani. Auch solle der Zeitverlust durch Tempo 30 „so weit wie möglich durch einen guten Verkehrsfluss kompensiert“ werden, etwa durch eine optimale Synchronisierung der Ampeln. Er kritisiert die Brüsseler Verwaltung scharf: Ihre übereilte Politik habe „zu einer konfliktreichen Atmosphäre zwischen Autofahrern und Radfahrern geführt“.

Unterschiedliche Wahrnehmungen

Das Tempolimit dürfte aber erst ein Schritt von mehreren der Stadt gewesen sein, um den Verkehr neu zu regeln. Es sei noch viel zu tun, so Stadträtin Van den Brandt. Es gebe bisher nur eine Zwischenbilanz in einem ungewöhnlichen Zeitraum, aber der Trend bei den Unfallzahlen zeige in die richtige Richtung. Fußgängeraktivist Van Waeg wünscht sich, dass bald auch die größeren Verkehrsachsen der Stadt verkehrsberuhigt werden. Er glaubt, dass die Zustimmung in der Bevölkerung bisher groß ist. „Ich kann nicht für alle Brüsseler sprechen, aber ich kenne viele, die zuerst ablehnend waren und die nur noch mehr Verkehrsprobleme befürchtet haben. Sie sind jetzt großteils begeistert. Ich denke, die meisten bewegen sich jetzt zwischen Akzeptanz und Freude.“