Mutter mit unternährtem Kind im Krankenhaus
Reuters/Jorge Silva
Hunger in Afghanistan

Über 22 Millionen Menschen akut bedroht

Afghanistan steht nach Angaben der Vereinten Nationen am Rande einer humanitären Katastrophe: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Landes wird ab November nicht ausreichend zu essen haben, wie aus einem am Montag von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) und dem Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen veröffentlichten Bericht hervorgeht.

Betroffen sei dem Bericht zufolge eine Rekordzahl von 22,8 Millionen Menschen in dem Land mit geschätzt 37 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Unter den Gefährdeten seien 3,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren, die bis Ende des Jahres an akuter Unterernährung leiden dürften. Der Bericht zeigt zudem, dass erstmals auch die städtische Bevölkerung in ähnlichem Maße unter Hunger leidet wie ländliche Gebiete.

Das sei ein Zeichen dafür, „dass sich das Gesicht des Hungers im Land verändert“, so die FAO, derzufolge die grassierende Arbeitslosigkeit gepaart mit einer Liquiditätskrise nun dazu führe, dass in allen größeren städtischen Zentren ein hohes Ausmaß an Ernährungsunsicherheit prognostiziert werde.

Arzt betreut unterernährte Kinder im Krankenhaus
AP/Felipe Dana
Über drei Millionen Kinder sind in Afghanistan von Unterernährung bedroht

Seit Taliban-Machtübernahme drastisch verschärft

Bereits im September und Oktober erlebten fast 19 Millionen Menschen in Afghanistan ein hohes Maß an akuter Ernährungsunsicherheit, ein Anstieg von fast 30 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, heißt es in dem Bericht weiter. Gründe für den Anstieg seien eine anhaltende Dürre, der Zusammenbruch öffentlicher Dienstleistungen, eine schwere Wirtschaftskrise und steigende Lebensmittelpreise in dem Land.

Die Lebensmittelkrise in Afghanistan war bereits vor der Machteroberung der Taliban gravierend – die Lage habe sich seitdem aber drastisch verschärft. Nachdem die Islamisten jedoch die Kontrolle übernahmen, beschlossen zahlreiche Geberstaaten, Milliarden an Hilfsgeldern bis auf Weiteres zurückzuhalten.

„Countdown zur Katastrophe“

„Der Bericht über die integrierte Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphase (IPC-Bericht) hat ergeben, dass mehr als jeder zweite Afghane (…) zwischen November 2021 und März 2022 mit einer Krise (IPC-Phase 3) oder einer Notsituation (IPC-Phase 4) akuter Ernährungsunsicherheit konfrontiert sein wird“, heißt es dazu in einer Aussendung der FAO. Die FAO und das Welternährungsprogramm klassifizieren Nahrungsmittelknappheit in fünf Kategorien, wobei Stufe fünf für eine Hungersnot steht.

Die Vereinten Nationen riefen zu dringender Hilfe auf, da sich das Land zu einer der größten Ernährungskrisen der Welt entwickle. Im weltweiten Vergleich sei Afghanistan sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen eines der Länder, in dem die meisten Menschen von Hunger bedroht seien.  „Es geht um Leben und Tod. Wir können nicht warten und zusehen, wie sich humanitäre Katastrophen vor unseren Augen entfalten – das ist inakzeptabel“, kommentierte FAO-Generaldirektor Qu Dongyu den Bericht. Laut FAO habe die Krise in Afghanistan bereits ein größeres Ausmaß erreicht als die Lebensmittelengpässe im Jemen und in Syrien.

Wahl zwischen „Migration und Hunger“

David Beasley, Exekutivdirektor des WFP, sagte, in diesem Winter seien Millionen Afghanen dazu gezwungen, zwischen Migration und Hunger zu wählen, wenn lebensrettende Hilfe nicht verstärkt und die Wirtschaft nicht wiederbelebt werden könne. „Wir befinden uns auf einem Countdown zur Katastrophe“, so Beasley, der hier anfügte: „Afghanistan ist jetzt eine der schlimmsten humanitären Krisen der Welt – wenn nicht sogar die schlimmste –, die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist fast zusammengebrochen.“

Hilfsgelder umgeleitet

„Unsere Vorhersagen treten viel schneller ein, als wir erwartet haben. Kabul ist schneller gefallen, als irgendwer gedacht hatte, und die Wirtschaft bricht schneller als gedacht ein“, sagte Beasley. Viele Menschen in Afghanistan verkaufen bereits ihre Besitztümer, um Lebensmittel bezahlen zu können. Hilfsorganisation fordern, sich mit den neuen Machthabern in Afghanistan trotz Sorgen um die Menschenrechte zusammenzusetzen, um einen wirtschaftlichen Zusammenbruch, der eine ähnliche Flüchtlingsbewegung wie 2015 auslösen könnte, zu verhindern.

Straßenszene in Kabul
AP/Bram Janssen
Der Bericht zeigt, dass erstmals auch die städtische Bevölkerung in ähnlichem Maße unter Hunger leidet wie ländliche Gebiete

Das WFP benötigt monatlich umgerechnet rund 190 Millionen Euro, um die bedürftigen Menschen zumindest teilweise zu ernähren. WFP-Leiter Beasley forderte, eingefrorene Gelder für humanitäre Zwecke freizugeben, „damit die Menschen überleben können“. Für Entwicklungshilfe vorgesehene Gelder sollten in humanitäre Hilfe umgewidmet werden. Die Organisation habe ihre eigenen Ressourcen angezapft, um die Lebensmittelhilfe bis Dezember abzudecken, nachdem einige Geber ihre Zusagen nicht eingehalten hätten. Womöglich müssten Mittel aus Hilfsmaßnahmen in anderen Ländern umgeleitet werden.

Taliban: Weizen im Gegenzug für „harte Arbeit“

Die im August in Afghanistan wieder an die Macht gekommenen radikalislamischen Taliban kündigten am Wochenende ein Beschäftigungsprogramm zur Reduzierung von Arbeitslosigkeit und Hunger an. Wie Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid am Sonntag bei einer Pressekonferenz sagte, sollen Tausende Arbeitslose an Beschäftigungsmaßnahmen teilnehmen und im Gegenzug Weizen bekommen.

„Das ist ein wichtiger Schritt bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“, sagte der Sprecher. Die Teilnehmer müssten jedoch „hart arbeiten“. Geld sollen sie nicht bekommen. Allein in der Hauptstadt Kabul sollen 40.000 Männer an dem auf zwei Monate angelegten Programm teilnehmen. Dafür seien insgesamt 11.600 Tonnen Weizen vorgesehen. Im Rest des Landes sollen 55.000 Tonnen Weizen verteilt werden.

Russland ruft Westen zum Handeln auf

Der russische Afghanistan-Gesandte Samir Kabulow forderte die Europäische Union unterdessen auf, „nach Afghanistan zurückzukehren“. Er sagte vor Journalisten: „Wenn der Westen versucht, Afghanistan mit Hunger zu ersticken“, würden sich die Menschen dem „Drogenhandel“ und „terroristischen Organisationen zuwenden oder nach Europa flüchten“. Er riet dem Westen, mit den Taliban zusammenzuarbeiten, um ein Abgleiten Afghanistans ins Chaos zu verhindern.

Der Kreml-Diplomat bekräftige die russische Forderung, die eingefrorenen internationalen Finanzreserven der abgesetzten afghanischen Regierung freizugeben. Westliche Regierungen hatten Milliarden Euro an Guthaben eingefroren, damit es nicht den Islamisten in die Hände fällt. „Das ist absolut ungeheuerlich“, sagte Kabulow. „Das Geld sollte an das afghanische Volk zurückgegeben werden.“ Kabulow zufolge bereitet sich Russland derzeit darauf vor, „in den kommenden Tagen“ mehr humanitäre Hilfe nach Afghanistan zu schicken.