die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger
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Ilse Aichinger

Literaturikone, die das Schweigen brach

Ilse Aichinger gilt als Ikone der Nachkriegsliteratur, die sich Erwartungen stets zu widersetzen wusste: Die Autorin, die vor fünf Jahren verstarb, würde heute ihren 100. Geburtstag feiern. „Aufruf zum Misstrauen“ heißt eine neu erschienene Textsammlung treffend: Wehrhaftigkeit, Skepsis und Staunen geben sich in ihrem zeitlosen Werk die Hand.

„Ja? Haben Sie richtig verstanden? Uns selbst müssen wir mißtrauen. Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten!“ schrieb Aichinger 1946 in ihrem „Aufruf zum Misstrauen“, der jetzt dem Sammelband mit circa 100 Texten aus 60 Jahren Schaffenszeit den Titel gibt. Mit einem Höchstmaß an Präzision, Klarheit und Genauigkeit betrachtete Aichinger stets – aus gewisser Distanz – die Umstände des Menschseins und schrieb gegen die Angepasstheit an.

„Aber wir sollen uns nicht beruhigen!“ lautete ihr berühmter Imperativ, der sich gegen das in der Nachkriegszeit grassierende Neuanfangspathos wendete, gegen einen allzu selbstsicheren Blick nach vorn. Aichinger war eine Ikone der Nachkriegsliteratur gleichermaßen wie eine „Gegenfigur“ des Literaturbetriebs, wies sie doch alle schriftstellerischen Eitelkeiten von sich.

Treffen der „Gruppe ’47“ im Jahr 1952 mit den Schriftstellern Heinrich Böll, Günther Eich und Ilse Aichinger
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Ilse Aichinger 1952 bei der Frühjahrstagung der „Gruppe ’47“: links Heinrich Böll, rechts ihr späterer Ehemann Günther Eich.

Bescheiden, freundlich und eigenwillig, so wurde Aichinger beschrieben; von einer „imperialen Liebenswürdigkeit“ sprach etwa ihr Kollege Martin Walser. Ihre Grundskepsis, die sie stets begleitete, galt dabei auch dem Dasein an sich: „Ich halte meine Existenz für völlig unnötig“, sagte sie 2003 im „profil“-Interview, wo sie einmal mehr ihre Sehnsucht nach dem Verschwinden zum Ausdruck brachte.

Überleben im Versteck

Aichinger wurde 1921 in Wien als Tochter einer jüdischen Ärztin und eines Lehrers geboren. Ihre Kindheit, die durch die frühe Scheidung ihrer Eltern geprägt war, verbrachte sie in Linz, ehe sie, wieder zurück in Wien, den Terror der Nazis erfuhr. Ihre Zwillingsschwester konnte nur knapp mit einem der letzten Kindertransporte nach England fliehen. Aichinger selbst überlebte die Nazi-Zeit gemeinsam mit ihrer Mutter in einem Zimmer nahe der Wiener Gestapo-Zentrale.

die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger im Jahr 1978
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Aichinger auf der Internationalen Frankfurter Buchmesse im Oktober 1978

1942 musste sie mit ansehen, wie ihre geliebte Großmutter und die jüngeren Geschwister der Mutter deportiert wurden. An ihrem Roman „Die größere Hoffnung“, der ersten und für lange Zeit einzigen literarischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, arbeitete Aichinger schon damals, im Versteck.

Nach dem Krieg begann sie ein Medizinstudium, das sie jedoch nach wenigen Semestern abbrach, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. 1948 dann das Debüt: Von Aichinger zunächst als Bericht gedacht („damit man weiß, was geschehen ist“), entstand damit ein „ungeheuer zarter und fragiler Text, der in der deutschsprachigen Literatur singulär ist“, wie der Literaturkritiker Klaus Kastberger „Die größere Hoffnung“ einmal würdigte.

Ilse Aichinger wäre 100 Jahre alt

Ilse Aichinger ist eine der ganz großen Nachkriegsliteratinnen. Vor fünf Jahren ist Aichinger gestorben, am Montag wäre ihr 100. Geburtstag.

Preis der Gruppe 47 für „Spiegelgeschichte“

Der Roman – übrigens der einzige Aichingers – schildert das Überleben im Nationalsozialismus als „Kinderspiel“, indem er Wörter wie „Jude“ oder „Nationalsozialismus“ ausspart und Traum und Realität vermischt. Die Rezeption von „Die größere Hoffnung“ war zunächst spärlich, erst nach Jahren wurde seine Bedeutung von einem breiteren Publikum erkannt.

Der große Sprung in die literarische Öffentlichkeit gelang Aichinger 1952, als sie für ihre berühmte, 1949 verfasste „Spiegelgeschichte“ den Preis der Gruppe 47 erhielt. Die zwölfseitige Erzählung, an der sie fast zwei Jahre arbeitete, handelt von der rückwärts erzählten Lebensgeschichte einer Frau, die nach einer Abtreibung stirbt.

Auszeichnung für die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger im Jahr 1971 in Dortmund
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Aichinger bei der Verleihung des Nelly-Sachs Preis 1971 – nur eine der zahlreichen Auszeichnungen, die sie erhielt.

Intensive Kinoleidenschaft

In der Gruppe 47, an deren Treffen sie in den 1950er Jahren regelmäßig teilnahm, lernte Aichinger auch ihren späteren Mann, den Lyriker Günter Eich, kennen. In den gemeinsamen zwei Jahrzehnten bis zu Eichs Tod 1972, die sie in Oberbayern, in Portugal und in Großgmain bei Salzburg verbrachten, entstanden schließlich auch die meisten ihrer Erzählungen und Gedichte, Hörspiele und Essays.

Veranstaltungshinweise

Zum 100. Geburtstag Aichingers gibt es zahlreiche Veranstaltungen:

In der Alten Schmiede findet von 2. bis 4.11. sowie am 8.11. ein Veranstaltungsschwerpunkt statt. Am 3.11. um 12.30 Uhr wird ein „Erinnerungszeichen“ für die Autorin auf der Wiener Schwedenbrücke enthüllt. Am 4.11. lädt das Literaturmuseum der ÖNB zur Diskussion zu Aichingers Werk. Am 6. und 7.11 warten das Ilse-Aichinger-Haus und das Theater Nestroyhof Hamakom mit einer zweitägigen Veranstaltung auf, bei der auch an Aichingers Schwester Helga Michie erinnert wird. Am 9.11. hält Teresa Präauer eine Festrede über Ilse Aichinger im Rathaus. Ebenfalls am 9.11. findet im Filmmuseum Wien „Ein Fest für Ilse Aichinger“ statt, mit Gesprächen über Aichinger und der Filmvorführung „Der dritte Mann“ („ihres Lieblingsfilms“).

Eine umfassende Würdigung erfährt Aichinger auch in einem Ö1-Schwerpunkt.

1987 publizierte sie den Band „Kleist, Moos, Fasane“, in dem sie ihre Lebenserinnerungen in Bruchstücken festhielt. Auf den Unfalltod ihres Sohnes, des Schriftstellers Clemens Eich, 1998 folgte eine 14-jährige Phase der Schreibabstinenz. Angeregt von ihrem engen Freund, dem Literaturkritiker Richard Reichensperger, begann sie ab 2001 dann doch wieder zu schreiben, Kolumnen für den „Standard“, unter anderem über ihre späte Leidenschaft, das Kino – jenen Ort, an dem Aichinger ihre Sehnsucht nach Flüchtigkeit gestillt sah.

Zu manchen Zeiten sah sich Aichinger drei oder vier Filme pro Tag an, mit, wie es heißt, „fast wahlloser Begeisterung“. Diese Liebe zum Film hat auch in einem weiteren Erinnerungsbuch, „Film und Verhängnis“ (2001) ihren Auftritt: Ausgehend von Stan Laurel und Oliver Hardy denkt Aichinger da über Absurditäten der Existenz nach oder spannt den Bogen von Beatles-Filmen zur ersten eigenen Englandreise 1948.

„Benötigt kein Lob, sondern Lektüre“

„Aichinger benötigt kein Lob, Aichinger benötigt Lektüre“, schrieb ihre Autorinnenkollegin Teresa Präauer nach Aichingers Tod. Von Präauer stammt nun auch „Über Ilse Aichinger“, eine weitere Jubiläumsneuerscheinung: In einem teils persönlichen Erinnerungsbüchlein spürt sie darin dem Leben Aichingers, ihren poetisch verdichteten Beobachtungen und ihrer Forderung nach Genauigkeit nach.

Aichingers Texte seien „kaum alt geworden, sie haben sich durch Komplexität wachgehalten und durch Kühnheit und Zärtlichkeit jung“, schreibt Präauer darin. Und: „Allzu einfach macht sie es sich und uns dabei nie – und das ist ihr Geschenk an uns Leserinnen und Leser.“