Szene aus dem Film „Titane“.
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Cannes-Gewinner „Titane“

Auto-Erotik einer Serienkillerin

„Titane“ ist wie ein Autounfall: Wegschauen geht nicht, die Faszination ist zu groß – und das ist in diesem Fall ein Kompliment. In Cannes erhielt das wüste Horror-Crossover die Goldene Palme, den höchsten Preis der Filmwelt abseits der Oscars. Jetzt kommt der Film ins Kino.

Ihr Becken kreist über der Motorhaube. Nur knappe goldene Shorts bedecken ihren Hintern, ihr Venushügel streift das Metall. Die Füße in High Heels, das Tanktop knapp: Alexia, eine erotische Tänzerin bei Autoshows, windet sich suggestiv auf dem Ausstellungswagen, die Besucher sind atemlos begeistert. Und dann schaut sie auf, direkt in die Kamera, der Blick herausfordernd: „Das hier ist nicht deine Show“, scheint der Blick zu sagen. „Das ist meine Show, und sie hat gerade erst begonnen.“

Als ungeliebtes Kind eines ungeduldigen Vaters wurde Alexia einst bei einem Autounfall schwer verletzt. Sie bekam eine Titanplatte in den Schädel operiert, die Narbe hinter dem Ohr wird nur notdürftig von ihren Haaren verdeckt. Und noch eine andere Spur hat der Unfall hinterlassen: Alexia entwickelt eine verstörend erotische Zuneigung zu Autos und Motoren, die sich schließlich in ihrem Job als Tänzerin manifestiert.

Szene aus dem Film „Titane“.
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Alexia (Agathe Rousselle) verbrennt hinter sich alle Brücken

Aufruhr in Cannes

Alexia, gespielt von der Künstlerin Agathe Rousselle, ist das Zentrum von „Titane“, jenem unerhörten Film mit Maschinenfetisch, der im Juli die Filmfestspiele in Cannes in Aufruhr versetzte und nach einer aufsehenerregenden Juryentscheidung am Ende die Goldene Palme abräumte.

Ungewöhnlich war das nicht nur, weil Regisseurin Julia Ducournau die erste Frau war, die in 74 Jahren den höchsten Preis in Cannes allein gewonnen hatte. Ihre einzige weibliche Vorgängerin Jane Campion musste sich 1993 die Goldene Palme für „Das Piano“ mit Chen Kaige für „Lebewohl, meine Konkubine“ teilen.

„Gehobener Horror“

Vor allem aber überraschend ist, dass mit „Titane“ ein monströser, schwelgerisch sinnlicher Horror eine so hohe Auszeichnung gewinnt. Für einen Film, der so schamlos mit Elementen des Genres spielt, wäre das bis vor wenigen Jahren nicht denkbar gewesen. Der Preis ist im Rahmen einer größeren Entwicklung zu betrachten: Seit einigen Jahren machen Genrefilme unter dem Schlagwort „elevated horror“, also etwa „gehobener Horror“, von sich reden, die nicht eindeutig der Horror- oder der Independentdrama-Schublade zuzuordnen sind.

Filme wie Ari Asters „Hereditary“, „The Lodge“ von Veronika Franz und Severin Fiala, Jordan Peeles „Us“ und – als einer der ersten – Jennifer Kents „The Babadook“, wurden plötzlich unter diesem Begriff auch im Feuilleton diskutiert. Genrefans lehnen die neue Unterkategorie allerdings ab mit dem Hinweis, dass es im Horrorkino seit jeher um viel mehr geht als bloß oberflächliches Schaudern, wie etwa jährlich vom Programm des „Slash“-Festivals abzulesen ist.

Viel mehr als nur Grusel

Auch Regisseurin Ducournau, die mit „Titane“ das diesjährige „Slash“ eröffnet hatte, findet im Horrorfilm viel mehr als nur Grusel. „Ich wusste seit meiner Kindheit, dass ich in Horrorfilmen etwas bekomme, das mir niemand von den Erwachsenen sonst geben kann“, so die Regisseurin gegenüber ORF.at.

„Genrefilme werden immer noch als Nebenprodukt des französischen Filmschaffens betrachtet, aber viele Horrorfilme verhandeln im Subtext sehr ernsthafte Dinge.“ Gerade jene Horrorfilme, die auf den ersten Blick wie Vorläufer von „Titane“ wirken, wie etwa „Christine“ von John Carpenter und „Crash“ von David Cronenberg, sind dafür gute Beispiele.

Szene aus dem Film „Titane“.
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Feuerwehrhauptmann Vincent (Vincent Lindon) verteidigt Adrien/Alexia bis zuletzt

Evolution einer Serienkillerin

Ducournaus Langfilmdebüt „Raw“ (2016) handelte von einer veganen Veterinärmedizinstudentin, die den Kannibalismus für sich entdeckt; eine Geschichte, die sich im Kern um die Emanzipation einer jungen Frau dreht, die ihre eigene Monstrosität entdeckt und zu akzeptieren lernt. In „Titane“ ist das zentrale Thema bedingungslose Liebe, denn Alexia ist keine einfache Heldin, sondern entpuppt sich rasch als Serienkillerin und Psychopathin.

Nachdem ein Mann, der sie auf der Autoshow beobachtet hat, zudringlich wird, wehrt sie sich und wird unversehens zur rauschhaften Mörderin, nicht nur an jenen, die ihr Unrecht tun, sondern an allen, die ihr nahekommen. In einer Nacht im Gewaltexzess hat sie schließlich Bondage-Sex in einem Auto, was bald zu ungewöhnlichen körperlichen Veränderungen führt.

Schon am nächsten Tag ist ihr die Polizei auf den Fersen, die Spuren der Zerstörung nach dem Exzess sind zu eindeutig. Auf der Flucht beschließt Alexia, sich als Adrien auszugeben, ein junger Mann, der vor zehn Jahren als Kind verschollen ist. Sie bricht sich selbst die Nase, bindet sich die Brüste flach und sieht damit so anders aus, dass sie von Adriens Vater, dem Feuerwehrhauptmann Vincent (Vincent Lindon) als verlorener Sohn liebevoll aufgenommen wird, ohne Fragen beantworten zu müssen.

Liebe ohne Hinterfragen

Gegen die ihm untergebenen Feuerwehrleute verteidigt Vincent diesen merkwürdigen jungen Mann kompromisslos und lässt ihm alle Ruhe, die er braucht. „Für mich ist Liebe etwas Grenzüberschreitendes, das so vieles impliziert“, sagt Ducournau zu dieser vermeintlichen Vater-Sohn-Beziehung. „Es gibt die Liebe zwischen einem Paar, die von einer Mutter zum Kind, die zwischen Freunden, aber letztlich meint Liebe all das. Und wenn sie bedingungslos ist, ist es egal, wer du bist, woher du kommst, was du getan hast, welches Geschlecht du hast.“

Ducournau hat den Film „für Vincent Lindon“ geschrieben, wie die Regisseurin im Interview sagt, niemand anderer wäre in der Rolle denkbar gewesen. Er spielt den Feuerwehrhauptmann als einen, der die Trauer um seinen Sohn mit hartem Training und Anabolika unter Muskelbergen zu begraben versucht hat, und für den die vermeintliche Rückkehr von Adrien alles bedeutet. „Es ist mir egal, wer du bist“, sagt er spät im Film, und selten war eine Liebeserklärung so radikal.

„Titane“ ist brüchig, schräg, abstoßend, sexy und merkwürdig, ein stressiger Bilderrausch, der nicht immer das Tempo zu halten vermag, humorvoll gewalttätig, zärtlich und provokant, alles zugleich. Und er ist ein enger Flirt mit dem Körperhorrorgenre, in dem Liebe und Monstrosität einander nicht ausschließen.